Leseprobe: NACHTSONNE - Flucht ins Feuerland
leseprobe Nachtsonne (Band 1)
1. NEUGIERDE
»Raus damit! Ich sehe doch, dass du mir etwas sagen willst, also leg los. Du würdest nicht so verbissen gucken, wenn es nicht wichtig wäre.«
Wie immer hat er recht. Er liest es mir von meinem Gesicht ab, als hätte ich mir meine Gedanken fein säuberlich auf meiner Stirn notiert. Doch ich bin unsicher. Wenn ich es ihm erzähle, mache ich es damit zur Wahrheit. Noch ist es nur in meinem Kopf. Niemand muss es erfahren. Ich könnte einfach versuchen, es zu vergessen.
»Du wirst mich nicht ernst nehmen. Es macht also keinen Sinn, dir davon zu erzählen.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht überrasche ich dich ja? Nun komm schon! Mach es nicht so spannend.«
Nervös fahre ich mir mit den Fingern durch das Haar. Es ist sowieso zu spät. Er wird nicht lockerlassen, das ist mir längst klar.
»Also schön«, beginne ich und schaue mich vorsichtshalber um. Außer Jakob soll es niemand hören. »Du erinnerst dich an Marzellus?«
»Den Techniker-Typen von Level 25?«
»Genau der.«
»Mein Gott, Nova! Bitte sag mir jetzt nicht, dass du an dem was findest. Der Kerl ist mindestens zwanzig Jahre älter als du!«
Ich platziere einen gezielten Hieb auf seiner Schulter. Von außen betrachtet muss unsere Unterhaltung nach Spaß aussehen, doch ich möchte nicht in diese Richtung abdriften. Was ich zu sagen habe, ist mir wichtig. Mehr als das. Es ist erschreckend, jedoch gleichzeitig faszinierend. Es hat mich völlig in seinen Bann gezogen.
»Sei still! Darum geht es mir nicht. Es hat nichts mit derlei Dingen zu tun. Außerdem ist er nur fünf Jahre älter als wir! Jetzt halt die Klappe und hör mir endlich zu!«
»Ist ja gut. Ich bin ganz Ohr.«
»Marzellus hat mir etwas erzählt. Ich glaube, er wollte es mir schon seit längerer Zeit sagen. Ich bin nicht sicher, aber er hat sich ziemlich schwer damit getan.«
»Sicher nicht halb so schwer wie du gerade.«
»Nein, du verstehst das nicht. Er weiß etwas. Etwas von dem wir uns keine Vorstellung machen können. Es ist der absolute Wahnsinn. Ich kann es selbst noch nicht richtig begreifen.«
»Dann teile dein Wissen mit mir. Vielleicht ist mein sagenhafter Verstand in der Lage, es zu erfassen.«
Mein Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt. Wieso muss Jakob immer alles ins Lächerliche ziehen? Ich beuge mich ein Stückchen näher an meinen Freund heran und spreche nun deutlich leiser als zuvor.
»Er ist sich sicher, dass es noch andere Orte wie diesen hier gibt. Verstehst du, was ich meine? Andere Menschen wie uns.«
Einen Moment lang schaut Jakob mich verdutzt an. Dann verzieht sich sein Gesicht zu einem unsicheren Grinsen. Er zweifelt an meinem Verstand. Ich kann es sehen.
»Ich meine es ernst, Jakob! Kein Scherz! Er hat vor einigen Wochen ein Gespräch belauscht, als er einen Lüftungsschacht gewartet hat. Er sagt, er weiß nicht, wer die Personen waren, die dort geredet haben, aber er konnte jedes Wort verstehen.«
»Nova. Ich bitte dich. Der Typ will dich doch nur beeindrucken. So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört! Andererseits ist es mal etwas Neues. Darauf muss man erst einmal kommen! Ich werd verrückt. So ein Idiot! Und du fällst auch noch darauf herein!«
»Jakob …«
»Nein, jetzt echt mal. Das ist doch nicht dein Ernst? Du schleppst mich hierher und willst mir weismachen, dass Marzellus, dessen Sicherheitsstufe höchstwahrscheinlich sogar noch unter unserer liegt, Kenntnis über andere Überlebende draußen im Feuerland hat? Das kannst du jetzt echt nicht von mir verlangen.«
»Sei still! Jeder kann dich hören. Lass mich doch einfach weitererzählen.«
»Wer soll mich denn hören? Meine Güte, du klingst total paranoid. Eines steht fest. Du gehst fürs Erste nicht mehr zu diesem Freak. Lass uns abhauen. Ich habe noch zwanzig Minuten Pause und ich hätte gerne noch was gegessen, wenn’s recht ist.«
»Jakob …«
»Nichts da, Jakob! Schluss jetzt!«
»Jakob!«
Nun bin ich diejenige, die zu laut spricht. Aber wenigstens hält er für einen Moment den Mund und ich kann mich wieder sammeln.
»Der Lüftungsschacht, den Marzellus warten musste, dieser Schacht war direkt oberhalb von Level 29.«
Die Aufteilung des HUBs in mehrere Level unterliegt einem recht einfachen System. Die ersten 22 Level des HUBs dürfen während der Arbeitszeiten nicht betreten werden, um im Falle eines technischen Defekts eine schnelle Evakuierung in die oberen Schutzräume gewährleisten zu können. Es sind die Wohnetagen, welche den inzwischen beinahe 5000 Bewohnern des HUBs ein Heim bieten.
Level 23 und 24 dienen der Unterhaltung und beherbergen den Versorgungsbereich. Gegessen wird in Schichten. Ich mag das Fress-Level, wie Jakob und ich es nennen. Im Gegensatz zu den Wohn-Levels ist diese Etage irgendwie bunter und freundlicher gestaltet. Sicher mit Absicht. Immerhin dient der Bereich als Mittelpunkt des sozialen Lebens. Hier trifft man Freunde und Familie, feiert gemeinsam Geburtstage oder Hochzeiten. Der schönste Ort im HUB.
Level 25 und 26 sind Arbeitslevel. Wer nicht das Glück hat, im Nahrungs- oder Unterhaltungsbereich eingeteilt zu sein, arbeitet hier. Nach langen Jahren der Arbeit kann man aufsteigen und in den höheren Levels positioniert werden. Jakob hat diesen Sprung sofort nach unserer Grundausbildung geschafft. Ich hingegen dämmere auf Level 25 vor mich hin. Mein Vater war, bis zu seinem Tod, auf Level 28 beschäftigt. Meine Mutter auf Level 26. Sie starb im letzten Jahr. Ein Unfall an einer der Maschinen. Schnell verdränge ich die Erinnerung. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Jakobs Eltern arbeiten beide auf Level 26. Sie sind furchtbar stolz auf ihren Sohn. Ich freue mich für ihn, fühle mich aber auch oft fehl am Platze, wenn ich mit seiner Familie zusammen bin. Weil mir beide Elternteile genommen wurden, komme ich mir oft wie eine Art Ersatztochter vor, wenn ich bei Jakob bin. Dabei tut seine Familie ihr Bestes, um mich ganz normal zu behandeln. Es ist einfach ein seltsames Gefühl.
»Ich denke, er ist für Level 25 zuständig?«
»Einer der Techniker ist ausgefallen und da ist er eingesprungen. Er sagt, für jede Tür und jede Schleuse musste jemand mit ihm kommen, weil sein Chip dort nicht funktionierte.«
»Ich kenne niemanden, der so weit oben arbeitet. Bist du sicher, dass er die Wahrheit sagt? Ich meine, was das Level angeht. Der Rest klingt für mich noch immer fragwürdig.«
»Ganz sicher. Er war richtig neben der Spur. Man konnte es ihm ansehen, Jakob. Der Junge hatte Angst!«
»Hmmm.«
»Jedenfalls ging es in dem Gespräch um Transporte. Es sollen irgendwelche Menschen von einem Ort zum anderen gebracht werden.«
»Woher willst du wissen, dass es nicht um Leute von hier geht?«
Jetzt habe ich Jakobs volle Aufmerksamkeit. Ich kann es spüren, sein Interesse ist geweckt. Doch meine wichtigste Information habe ich noch nicht preisgegeben. Damit werde ich ihn vollends überzeugen.
»Die Rede war von HUB 6, 11 und 23.«
Nun ist er fertig mit den Nerven. Ich kann beinahe hören, wie sein Hirn arbeitet. Mir ging es, nach dem Gespräch mit Marzellus, genauso. Komisch, wie das Gehirn mit Informationen umgeht, die nicht ins Bild passen. Seit ich denken kann, weiß ich, dass HUB 1 der einzige Komplex mit Überlebenden ist. Ich weiß das, weil man es mir so beigebracht hat. Ich weiß das, weil dort eine 1 hinter dem HUB steht. Ich weiß das, weil es eben einfach so ist.
»HUB 6, 11 und 23? Du meinst …«
Ich brauche nicht zu antworten. Ein vielsagendes Nicken genügt.
»Nova. Das würde bedeuten, dass …«
Er kann den Satz nicht beenden. Achtzehn Jahre Wissen überlagern die unerwartete Erkenntnis.
»Dass wir nicht die Einzigen sind, Jakob. Genau das versuche ich dir zu sagen.«
Er schüttelt den Kopf, als würde er das Gehörte damit loswerden können.
»Ich weiß, es ist eine unvorstellbare Sache. Ich habe selbst tagelang darüber nachgedacht. Es ist so unglaublich. Aber es ist nicht unmöglich, Jakob. Denk doch mal nach. Woher genau wissen wir, dass wir die einzigen Überlebenden sind? Hast du dich in letzter Zeit draußen mal umgesehen?«
»Sehr witzig!«
Meine Frage ist reiner Sarkasmus. Natürlich kann er sich draußen nicht umschauen. Keiner kann das. Vielleicht mit Ausnahme von ein paar Technikern und den Sicherheitsleuten. Aber genau darauf will ich ihn stoßen. Schließlich haben wir all unsere Informationen von unseren Eltern, Lehrern, dem Unterhaltungskanal, den wir einmal die Woche schauen dürfen, und natürlich von den Vorsitzenden des HUBs 1. Weder Jakob noch ich, noch irgendjemand, den wir kennen, war jemals wirklich im Feuerland. Wie denn auch? Bei 50 °C Außentemperatur wäre es ohnehin unmöglich, weiter als einen halben Kilometer weit zu kommen. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Überlebende innerhalb dieses kleinen Radius zu finden sind. Wenn Marzellus also recht hat, dann gibt es noch weitere HUB-Komplexe.
»Ich meine es ernst. Alles, was du über das Feuerland weißt, hast du von Leuten, die es wiederum von anderen haben und die haben es vom Rat. Du kannst nicht mit Bestimmtheit sagen, dass wir allein sind. Und was spricht auch dagegen? Wenn unsere Vorfahren HUB 1 bauen konnten, dann konnten die Leute von HUB 6 es vielleicht auch? Warum sonst sollten die beiden Kerle, die Marzellus belauscht hat, genau über diese drei HUBs reden? Das machen die doch nicht einfach zum Spaß!«
»Aber Nova! Es ist absolut unmöglich, dass man uns jahrzehntelang weismachen konnte, es gäbe da draußen niemanden. Irgendwer hätte es doch herausgefunden. So was kannst du nicht geheim halten. Und davon mal ganz abgesehen. Warum?«
Diese Frage habe ich mir ebenfalls gestellt und mir ist keine gescheite Antwort darauf eingefallen. Wieso zum Teufel sollte man den 5000 Bewohnern des HUBs weismachen, dass es keine anderen Menschen mehr auf dem Planeten gibt? Diese Information birgt so viel Hoffnung und würde wahre Begeisterungsstürme lostreten. Welchen Grund kann es geben, es geheim zu halten?
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur diese spärlichen Informationen. Mehr weiß ich einfach nicht. Aber wenn du darüber nachdenkst, wird dir sicher auffallen, dass es möglicherweise einen Grund gibt, der uns nicht gefallen wird. Ich meine, uns alle derart in die Irre zu führen ist kein Akt der Gutmütigkeit.«
»Ganz ehrlich. Wenn ich darüber nachdenke, bestätigt sich eher mein Verdacht, dass Marzellus Mist erzählt. Vielleicht hat er es nicht erfunden, aber ganz sicher hat er sich nur verhört oder sucht einfach nach Zerstreuung. Als Techniker wünscht man sich vielleicht eine spannende Ablenkung. Was weiß ich? Aber ganz sicher ist das alles nur ein riesen Missverständnis. Du kannst doch nicht, nur wegen ein paar möglicherweise gesagter Worte, gleich das ganze System infrage stellen, Nova! Das ist selbst für dich zu verrückt.«
Er entgleitet mir. Seine Aufmerksamkeit lässt nach und er wehrt sich gegen den Gedanken. Vielleicht ist es erst einmal genug. Ich habe das befürchtet. Die Neuigkeiten sind einfach zu unglaublich. Kein normaler Mensch würde sie akzeptieren und dann einfach zurück an die Arbeit gehen und weitermachen, als wäre nichts passiert.
»Ich verstehe, dass es dir wie der reine Wahnsinn vorkommt. Ich wollte es dir erzählen. Du bist mein bester Freund, Jakob. Wem sonst sollte ich von so einer Sache erzählen? Bitte, denk noch einmal darüber nach. Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein. Es muss einen Grund geben, wieso sie es so handhaben. Willst du nicht auch mehr erfahren?«
»Sollte die ganze Geschichte auch nur ein Fünkchen Wahrheit enthalten, sicher. Aber ich bin davon echt nicht überzeugt. Ich finde, wir gehen jetzt mal schnell zurück an die Arbeit. Ich habe keine Lust, wegen einer erfundenen Horror-Story Strafpunkte zu kassieren. Echt nicht.«
Er hat recht. Ich habe diesen Monat bereits zwei Verfehlungen auf meinem Konto und sollte lieber aufpassen, dass es nicht ausufert. Außerdem bringt die Unterhaltung uns an dieser Stelle nicht weiter.
»Gut. Aber lass es dir noch mal durch den Kopf gehen. Mehr verlange ich ja gar nicht.«
»Vielleicht rede ich mal mit Kieran darüber. Der ist ein helles Köpfchen, was Verschwörungstheorien angeht.« Er grinst wissend.
»Tu das. Aber pass auf, dass er es nicht weitererzählt. Wenn es die Runde macht, könnten wir Ärger bekommen.«
Jakob scheint kurz darüber nachzudenken.
»Stimmt. Wenn es wahr ist, gibt’s Ärger vom „Bösen Rat“, und wenn es nicht wahr ist, sind wir dran wegen Aufhetzung.«
Er lächelt, während er dies sagt, aber in seiner Feststellung steckt eine Menge Wahrheit. So oder so sollte ich aufpassen, wem ich davon erzähle. Genau wie Marzellus. Ich muss unbedingt noch mal mit ihm sprechen.
»Dann sehen wir uns heute Abend?«
»Ist gut. Und denk daran, erzähl es erst mal niemandem, außer Kieran!«
»Geht klar.«
Damit steht er auf und läuft eilig in Richtung der Transport-Aufzüge für Level 27 und 28.
Ich beneide ihn ein wenig. Ich bin nur ein Jahr jünger als Jakob und werde trotzdem noch mindestens zwei Jahre auf Level 25 herumsitzen müssen. Er ist einer der wenigen, die den Einstufungstest mit Bravour gemeistert haben und somit zu höheren Aufgaben berufen wurden. Darum spricht er wahrscheinlich auch selten über seine Arbeit. Ich dachte bisher, es liegt daran, dass der Job einfach todlangweilig ist, doch nach dieser Sache mit Marzellus kommen mir Zweifel. Vielleicht muss Jakob dort oben Dinge tun, die wir „Normalsterblichen“ nicht wissen dürfen? Aber wenn es so ist, wieso reagiert er dann so abweisend auf meine Neuigkeiten? Das passt nicht zusammen. Wahrscheinlich bin ich wirklich ein wenig paranoid. Immerhin geht es hier um meinen besten Freund! Wenn es dort oben etwas gäbe, was ich nicht wissen soll, wäre er der Erste, der mir davon erzählt. Oder etwa nicht?
Ein wenig enttäuscht mache auch ich mich auf den Weg zurück zur Arbeit. Mir bleiben nur knapp fünf Minuten, also beeile ich mich. Vor dem Lift Nummer 25-1 warten nur wenige Menschen. Auf diesem Level ist um diese Uhrzeit immer wenig los, deshalb habe ich es für das Gespräch mit Jakob ausgewählt. Die Türen gleiten auf und ich reihe mich in die Schlange ein. Ich zähle die Menschen um mich herum. Es sind siebzehn. Der Aufzug kann mehr als das Achtfache befördern. Einen Wimpernschlag später sind wir da. Das Licht auf Level 25 ist irgendwie anders als unten. Kühler. Es soll das Tageslicht der alten Zeit nachempfinden. Ich mag es nicht. Vielleicht hätte ich das Licht in der alten Zeit gut gefunden, doch dieses hier ist einfach nur kalt und grau. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Licht früher so war oder dass es oben an der heißen Erdoberfläche so ist. Ich stelle mir Tageslicht eher golden vor. Irgendwie weich und warm. Auf keinen Fall so weiß und künstlich, wie es uns hier geboten wird.
2. MISSTRAUEN
Wenn ich es mir recht überlege, habe ich schon immer an den Abläufen und Selbstverständlichkeiten des HUBs gezweifelt. Als ich noch ganz klein war, habe ich ständig irgendwelche Dummheiten angestellt. Dinge ausprobiert, meine Eltern belauscht und alles hinterfragt. Mit zunehmendem Alter hat sich diese Eigenschaft ein wenig korrigiert, aber neugierig war ich schon immer. Ich ertrage die Vorstellung einfach nicht, dass dieser Kaninchenbau, dieses Konstrukt unter der Erde, schon alles sein soll. Ich WILL einfach daran glauben, dass da noch mehr ist. Dank Marzellus habe ich einen neuen Anreiz. Einen Lichtblick. Ich muss einfach glauben, dass er sich nicht verhört hat. Dass dort noch andere Menschen leben und dass es mehr gibt als diese kleine Welt unter der Erde.
Zwar ist der HUB ein technisches Wunderwerk und ich sollte dankbar sein, dass unsere Vorväter unser Überleben mit seinem Bau gesichert haben, doch gehören Menschen meiner Meinung nach nicht unter die Erde. Auch wenn ich es nicht anders kenne und eigentlich an das Leben unter Tage gewöhnt sein sollte, wünsche ich mir eine Alternative.
Nach der Unterhaltung mit Jakob bin ich jedoch leicht verunsichert. Er scheint die Sache nicht besonders ernst zu nehmen. Womöglich bilde ich mir tatsächlich etwas ein? Es ist vielleicht einfach nur Wunschdenken. Wenn Marzellus sich bloß einen Spaß mit mir macht, werde ich ihm den Kiefer brechen. Aber ich halte ihn nicht für so einen Typ Mensch. Er ist sanft, handelt stets wohlüberlegt und würde niemandem etwas Böses wünschen. Mich so hereinzulegen, das wäre einfach nicht seine Art. Außerdem ist er älter als Jakob und ich. Kindereien gehören nicht mehr zu seinem Alltag. Ich weiß, dass er schon einmal verheiratet war. Seine Frau ist gestorben. Das ist schon ein oder zwei Jahre her. Wer so etwas erlebt hat, gibt sich nicht irgendwelchen dummen Späßen hin. Das ist nicht sein Stil. Jakob schätzt ihn einfach falsch ein. Marzellus sagt die Wahrheit, dessen bin ich mir sicher, und ich werde es meinem besten Freund schon noch irgendwie beweisen.
Es ist schon spät und ich schlendere den langen Gang entlang, um zu meiner Wohneinheit zu gelangen. Ich habe es nicht eilig. Müde bin ich ohnehin noch nicht. Wer kann schon schlafen, wenn sich gerade die ganze Welt verändert?
Vor meiner Tür sitzt Nume. Sie weint. Ihre Arme um die Knie geschlungen, schütteln sie heftige Schluchzer. Schnell eile ich zu ihr. Irgendetwas muss passiert sein. Vielleicht ist jemand gestorben? Ich erinnere mich daran, wie sie mir die Nachricht über Mutters Tod überbracht haben. Sachlich und mit ernster Miene. Hoffentlich ergeht es Nume nicht genauso.
Kurz vor meiner Tür halte ich inne, taste mich zaghaft vorwärts. Ich will sie nicht erschrecken. Sie wirkt zerbrechlich und viel zierlicher als sonst. Dabei ist sie schon immer etwas weicher und mädchenhafter als ich gewesen. Mein Beschützerinstinkt meldet sich umgehend. Ich will wissen, was geschehen ist, und den Verantwortlichen zur Rede stellen. Sofort! Ihre schulterlangen, blonden Haare hängen ihr in das tränennasse Gesicht. Ihre Augen sind verquollen und starren nachdenklich ins Leere.
»Nume? Was ist passiert? Geht es dir nicht gut? Komm her.«
Ich öffne meine Arme und sie fällt schluchzend hinein. Gemeinsam hocken wir auf dem spiegelglatten Boden und ich halte sie, damit sie ihre Stimme unter Kontrolle bringen kann. Nach einer Weile geht es schon besser. Ihr Atem geht nicht mehr so stockend und sie windet sich in meinen Armen, will Abstand nehmen, um mir in die Augen sehen zu können.
»Es ist Mailo. Sie haben ihn ausgewählt.«
Mein Herz setzt einen Moment lang aus. Mir wird klar, dass ich es schon erwartet hatte. Nume und Mailo sind unzertrennlich. Natürlich geht es um ihn. Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Für diese schlechte Neuigkeit gibt es keine tröstenden Worte.
»Es ging so schnell, Nova. Einfach so. Der Bescheid kam heute Morgen. Wir wollten uns abends treffen. Uns verabschieden. Er ist nicht aufgetaucht. Ich bin dann zu seiner Wohneinheit gegangen, doch seine Mutter konnte mir nur noch sagen, dass er schon vor Stunden abgeholt wurde. Direkt aus dem Labor! Sie haben ihn nicht einmal mehr nach Hause gehen lassen. Er ist einfach weg, Nova! Einfach weg!«
Wieder packt sie ein heftiger Heulkrampf und ich streichle ihr sanft über den Rücken. Doch mein Mitgefühl wird durch Wut getrübt. Meine Zweifel sind wieder da. Wieso müssen Menschen nach draußen geschickt werden, wenn dort gar nichts ist? Mailo ist jetzt im Außeneinsatz. Immer wieder geschieht es, dass Freunde, Bekannte und Familienmitglieder von heute auf morgen ausgewählt werden. Es gibt keine erkennbaren Kriterien. Es scheint reine Willkür zu sein und doch nehmen wir es als selbstverständlich hin. Als wäre es das Normalste der Welt. Dabei ergibt es keinen Sinn. Selbst wenn die Außeneinsätze nötig sind, warum bleibt keine Zeit für eine ordentliche Verabschiedung? Wieso muss es so schnell gehen?
»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ausgerechnet er.«
Ich drücke Nume fest an mich, doch nichts kann ihr in dieser Situation helfen. Nicht der ausgebliebene Abschied ist das Bittere an Mailos Verschwinden. Es ist die Tatsache, dass er nicht zurückkommen wird. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt.
Zwei Stunden später liegen Nume und ich in meinem Bett. Mein Angebot, bei mir zu übernachten, hat sie dankend angenommen. Ich kann sie gut verstehen. In diesem Zustand möchte man seinen Eltern nicht gegenübertreten. So viele Fragen und keine Kraft, darüber zu reden.
Ich bin kein bisschen müde. Der Tag war einfach zu ereignisreich. Jakobs Reaktion auf Marzellus‘ Entdeckung beunruhigt mich noch immer. Dann die Sache mit Mailo. Ich bin so wütend. Aber wenn man wütend ist, kann man keinen klaren Gedanken fassen, also versuche ich mich zu beruhigen. Ich denke an meine Kindheit. An Tage ohne Sorgen. An gemeinsame Abende mit meinen Eltern. Geburtstagsessen auf dem Fress-Level. Dann geht es wieder. Ich bin nicht mehr so aufgebracht und beginne ganz am Anfang.
Ich stelle mir vor, wie der HUB ins Leben gerufen wurde. Dreißig Stockwerke, knapp 200 Meter unter der Erde. Kein Tageslicht. Kein Weg nach draußen. Jedenfalls keiner, den je ein normaler Bewohner gekannt hätte. Ein ausgeklügeltes Belüftungs- und Klimasystem. Hochmoderne Agrarwirtschaft, ohne natürliches Sonnenlicht, ohne Mutterboden. Platz für 5000 Menschen und Dinge, die das Leben unter der Erde angenehm gestalten. Der Fitness-Bezirk mit seinen Kletterwänden, lebensechten Videospielen, bei denen man das Gefühl hat, in einem tropischen Paradies oder in der Arktis zu sein, und der Laufstrecke, die nie endet und doch nur 100 Meter lang ist. Der Schul-Bezirk, wo die Kleinsten die Regeln unserer Welt kennenlernen, spielen und die alte Geschichte studieren, wenn sie etwas älter sind. Das Museum mit seinen zahlreichen, faszinierenden Artefakten aus der Zeit davor. Wie viele Stunden habe ich dort verbracht? Ich kann sie nicht zählen.
All diese Annehmlichkeiten, diese Technik, diese Mühe, so viele Menschen am Leben zu erhalten. Dort oben muss es schlimm sein, wenn man sich entschieden hat, solch eine Anlage zu errichten. Ich gehe also davon aus, dass der HUB tatsächlich unserem Schutz dient. Wieso also diese Geheimnistuerei? Welchen Grund kann es geben, uns jahre-, nein, jahrzehntelang die Existenz der anderen HUBs zu verschweigen?
Ich gehe die Liste der Möglichkeiten durch. Vielleicht sind die Bewohner der anderen Komplexe bösartig? Vielleicht wollen sie unsere Rohstoffe oder Technologie? Sofort verwerfe ich den Gedanken. Die beiden Männer hätten kaum über den Transport von Menschen aus anderen Kolonien gesprochen, wenn diese gefährlich wären oder uns überfallen wollten. Kolonien? Kann man sie so nennen? Wenn wir nicht die Einzigen sind, dann wohl schon. Letztendlich sind es doch Siedlungen.
Weiter im Text. Wenn diese Menschen nicht unsere Feinde sind und die oberen Hierarchien offenbar voneinander wissen, dann muss es einen anderen Grund geben, den „normalen“ Bewohnern des HUBs nichts davon zu erzählen. Fieberhaft überlege ich. Doch wie ich es auch drehe und wende, es kann einfach keine andere Erklärung geben als die schlichte Tatsache, dass sie uns mit einem niederträchtigen Hintergedanken belügen. Wäre die Existenz der anderen HUBs eine gute Nachricht, hätten wir sie längst erfahren.
Plötzlich fällt mir etwas auf. Die Männer haben von HUB 6, 11 und 23 gesprochen. Die Siedlungen haben also alle dieselbe Bezeichnung. HUB – Human Rescue Brig. Ich habe das ganz selbstverständlich hingenommen, weil der HUB mein Zuhause ist. Weil er gar nicht anders heißen kann und es daher nur logisch ist, dass die anderen Siedlungen genauso benannt wurden. Aber ich habe vergessen, den offensichtlichen Schluss daraus zu ziehen. Wenn man davon ausgeht, dass die Anlagen sich nicht nur in der Namensgebung, sondern auch in Aussehen, Organisation und Größe ähneln, dann müssen sie alle mehr oder weniger zur selben Zeit erbaut worden sein. Das wiederum würde zwangsläufig bedeuten, dass die Erbauer voneinander wussten und die HUB-Komplexe an mehreren, möglicherweise taktisch günstigen Positionen errichtet haben. Die ersten Bewohner des HUBs mussten also von der Existenz der anderen wissen. Alles andere wäre völlig unsinnig, ja beinahe unmöglich!
Meine neuen Schlussfolgerungen irritieren mich noch mehr als die bloße Tatsache der Existenz von anderen Menschen auf der Erde. Dummerweise macht Nume plötzlich Anstalten die Position zu wechseln und stört meine Grübelei.
»Schläfst du?«
Ich seufze und versuche meinen Gedanken zu konservieren. Ich darf jetzt nicht den Faden verlieren. Aber Nume braucht mich und ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich so täte, als würde ich schlafen.
»Nein.«
»Wieso nicht? Soll ich etwas rüberrutschen?«
»Nein, alles o. k. Ich bin nur zu aufgeregt zum Schlafen.«
»Ist es wegen Mailo?«
Ich würde ihre Frage gerne bejahen, aber das wäre gelogen.
»Nume …«
»Ja?«
»Ich glaube, ich muss dir etwas erzählen. Ich bin nicht sicher, ob es ein günstiger Zeitpunkt ist, wegen Mailo.«
»Wenn es mich ablenkt, ist es der richtige Zeitpunkt. Ich möchte bloß nicht mehr an ihn denken. Bitte erzähl es mir.«
Ich atme tief ein und beginne ein zweites Mal an diesem Tag, meine seltsame Entdeckung zu beschreiben.
Nachdem ich geendet habe, folgt ein langes Schweigen. Nume scheint ebenso verwirrt zu sein, wie Jakob es war. Leider ist es stockdunkel, so kann ich ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Also warte ich geduldig und gebe ihr Zeit, das Gesagte zu verdauen. Wahrscheinlich sind es nur Sekunden, aber mir erscheint es wie mehrere Minuten, bis sie endlich etwas erwidert.
»Nova, wenn du richtig liegst, dann hätten unsere Urururgroßeltern davon gewusst und es weitergegeben, dieses Wissen. Das ergibt keinen Sinn!«
Sie hat recht, aber ich bin trotzdem erleichtert. Sie glaubt mir! Zumindest scheint es so. Ich verdränge die Tatsache, dass sie meine Theorie als Bockmist hinstellt, und genieße es, eine Verbündete zu haben.
»Ja, vielleicht. Aber möglicherweise liegt die Erklärung irgendwo dazwischen? Ich meine, wieso sonst sollen die Menschen damals mehrere, identische Zufluchtsorte wie diesen errichtet haben, ohne dass die zukünftigen Bewohner von dem Vorhaben wussten? Sie konnten den Leuten wohl schlecht das Gedächtnis löschen, nachdem sie eingezogen waren.«
»Vielleicht ja schon?«
»Unsinn!«
Nume kichert leise. Ich finde es gut, dass ich es geschafft habe, sie etwas abzulenken.
»So oder so hat Marzellus den Beweis dafür gefunden, dass es im Feuerland noch andere Überlebende gibt. Ich finde, das allein ist schon aufregend genug.«
»Was hat Jakob dazu gesagt?«
»Wieso glaubst du, dass ich es ihm erzählt habe?«
»Also bitte!«
Natürlich weiß sie es. Sie kennt mich. Sie kennt mich schon, seit wir zusammen im Schul-Bezirk waren. Von Anfang an. Jakob kam später. Trotzdem ist er mir der liebste Freund auf der Welt und sie weiß das. Aber sie ist nicht eifersüchtig. Sie glaubt immer noch, dass Jakob und ich irgendwann ein Paar werden und heiraten. Ich lasse sie in dem Glauben. So sind alle zufrieden. Außer Jakob vielleicht. Bei dem Gedanken an meinen besten Freund werde ich wieder ein wenig wütend. Warum versteht Nume sofort, was ich zu sagen habe, und er weigert sich stoisch?
»Er hat es für einen geschmacklosen Flirtversuch gehalten.«
»Er dachte, du baggerst ihn an?«
»Nein! Er meint, Marzellus will mich beeindrucken.«
»Inwiefern sollte das beeindrucken?«
»Keine Ahnung! Du weißt doch, wie Jakob manchmal ist. Da steigt doch keiner durch.«
»Auch wahr …«
»Jedenfalls nimmt er das Ganze nicht wirklich ernst. Er sagt, er will es Kieran erzählen und sehen, was der davon hält.«
»Wozu?«
»Ich glaube, Kieran ist empfänglich für derlei Theorien und hat vielleicht ein paar Ideen. Er hinterfragt doch alles und jeden!«
»Das stimmt. Voriges Jahr hat er behauptet, der Regent würde ein Fünftel der Nahrung abzweigen und für sich selbst behalten. Völliger Unsinn! Wie sollte ein Mann allein so viel essen? Wenn du mich fragst, Kieran spinnt. Aber vielleicht hat Jakob den richtigen Riecher. Möglicherweise brauchen wir genau so einen Irren, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Ja, vielleicht.«
Eine Zeit lang sind wir beide ganz still und gehen unseren eigenen Gedanken nach. Dann stupst Nume mich an.
»Nova?«
»Ja?«
»Wenn im Feuerland Menschen leben, dann ist Mailo vielleicht gar nicht verloren. Er könnte einfach nur den Standort wechseln. Vielleicht kommen sie deshalb nie zurück?«
Was sie sagt, lässt mich erneut grübeln. Ich denke, Nume liegt falsch. Andererseits, ganz unlogisch ist der Ansatz auch nicht. Was, wenn diejenigen, die für den Außeneinsatz ausgewählt werden, tatsächlich mehr erfahren, die anderen HUBs sogar besuchen dürfen? Allerdings würden die Bewohner des anderen HUBs sich dann natürlich fragen, woher diese Fremden plötzlich kommen. In HUB 1 ist noch nie ein Fremder aufgetaucht. Ich will Nume nicht die Hoffnung nehmen.
»Das könnte sein. Vielleicht kommen sie deshalb nie zurück.«
3. SPEKULATION
Geduldig warte ich in der Schlange der Nahrungsausgabe. Eigentlich habe ich keinen Hunger. Zumal ich jetzt schon weiß, wie meine Ration aussehen wird. Der BIOscan von heute Morgen war wieder einmal eine Katastrophe. Doch leider kann man den Scan nicht umgehen. Die frische Kleidung, welche mich jeden Morgen hinter der schmucklosen Wandplatte meiner Wohneinheit erwartet, erhalte ich erst, nachdem ich meinen Daumenabdruck eingescannt habe. Hier gibt es wenig Spielraum für Betrug. Niemand anderes kann mein Fach öffnen, da jeder Fingerabdruck einzigartig ist. Während ich den Scanner berühre, werden meine Daten übermittelt. Das Ergebnis sehe ich nun vor mir auf meinem Tablett. Unfassbar viel Gemüse, nichts dabei, was einen Reiz auf mich ausgeübt. Aber ich bin selbst schuld daran. Ein Freund arbeitet bei der Nahrungsvergabe. Zu besonderen Anlässen gibt es ausgefallene Speisen, manchmal sogar Kuchen. Besonders an Kindergeburtstagen ist die Auswahl verlockend. Mein Freund besorgt mir kleine Kostproben. Und das regelmäßig. Somit ist es kein Wunder, dass meine Werte, in den Augen der Gesundheitskontrolle, bedenklich sind. Im Grunde stört es mich nicht, wenn meine Gesundheit so genau unter die Lupe genommen wird. Es gibt mir sogar ein gutes Gefühl, wiegt mich in Sicherheit. Wenn ich es aber in Hinblick auf die Geschehnisse der letzten Tage betrachte, verursacht es mir plötzlich eine Gänsehaut. Ist es nicht auch eine Form der Kontrolle? Immerhin ist über jeden von uns praktisch alles bekannt. Alter, Blutgruppe, Interessen, Freundeskreis, Hämoglobinwert. Allmählich fühle ich mich eher beobachtet als beschützt. Seit Tagen überkommt mich regelmäßig das Bedürfnis, mich schlagartig umzudrehen und einen potenziellen Verfolger zu enttarnen. Ich unterdrücke es gewissenhaft. Niemand soll mich für verrückt halten.
Ich sondiere die Lage auf dem Fress-Level und entdecke Jakob und Kieran an unserem Lieblingsplatz. Was die Pausenzeiten angeht, so hat es die HUB-Leitung richtig gemacht und ich schäme mich beinahe für meine Verdächtigungen. Die Schichten der verschiedenen Arbeitslevel sind für unterschiedliche Zeiten zum Essen eingeteilt. Hierbei wird sorgsam darauf geachtet, dass Eltern und Kinder, sofern die Kleinen nicht noch den Schul-Bezirk besuchen, niemals gleichzeitig essen. Dies soll den Jugendlichen die Möglichkeit geben, soziale Bindungen außerhalb der eigenen Familie einzugehen. Für mich, Nume, Mailo und Jakob bedeutet das eine Menge Spaß. Allerdings hätte ich meine Pause jederzeit freiwillig mit meiner Familie verbracht, wenn ich geahnt hätte, dass ich sie so früh verlieren würde. Und nun fehlt auch noch Mailo in der Runde. Offenbar hat der Spaß ein Ende.
Ich balanciere mein Essen und den Vitamindrink vorbei an den Reihen voll besetzter Tische und stoße zum Rest meiner Truppe. Jakob stopft sich gerade mit gebratenem Hühnchen voll und ich frage mich augenblicklich, wie er da ran gekommen ist. Seine Werte scheinen großartig zu sein.
»Hey, Jungs!«
»Nova! Sieht man dich auch mal wieder?«
Kieran tut so, als wäre es meine Schuld, dass wir uns selten über den Weg laufen. Dabei ist er ständig unterwegs und gesellt sich nur zu seinem Kumpel Jakob, wenn wir Mädchen nicht dabei sind. Ich glaube, er hält sich für furchtbar wichtig. Vermutlich liegt es an der Ausbildung, die er genießt. Genau wie Jakob ist er ein Senkrechtstarter. Später einmal wird er praktisch direkt für den Regenten arbeiten. Dass dies noch einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hin ist, hat er augenscheinlich noch nicht begriffen.
»Was treibt ihr Typen denn so?«
Ich werfe einen vielsagenden Blick auf das Huhn und Jakob grinst mich mit fettverschmiertem Mund an.
»Och, nichts weiter. Wir planen die Reise zu HUB 23. Und du?«
Kieran will mich reizen. Schnell werfe ich Jakob einen fragenden Blick zu, obwohl es ja offensichtlich ist, dass er Kieran inzwischen alles erzählt hat.
»Schsch!«
Ich würde ihm am liebsten meinen Brokkoli ins Gesicht stopfen, nur um ihn zum Schweigen zu bringen. Wieso kann er nicht leiser sprechen?
»Keine Sorge. Kein Mensch hört uns zu.«
Kieran tut allwissend, wie gewöhnlich. Andererseits hat er recht. Um uns herum ist es laut. Alle unterhalten sich. Auf Kierans Blödsinn reagiert niemand.
Ich lasse mich auf einen der freien Plätze fallen und stochere in meinem Essen herum. Auf keinen Fall werde ich dem Trottel zeigen, wie sehr mich seine Meinung zu dem Thema interessiert. Obwohl es so ist. Ich brenne darauf, die Sache weiter zu verfolgen. Meine eigenen Überlegungen führen bisher nur in Sackgassen.
»Jakob hat mir von deiner kleinen Verschwörungstheorie erzählt«, merkt Kieran nun unnötigerweise an.
»Und?«
»Wie gut kennst du Marzellus?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Nun, seine Behauptung ist nicht ohne. Wäre doch gut zu wissen, was für ein Typ er so ist.«
Ich verstehe nicht, worauf Kieran hinaus will, und ignoriere seine Frage.
»Was hältst du davon? Ist es wirklich eine Verschwörungstheorie oder steckt mehr dahinter? Es könnte doch etwas dran sein, oder etwa nicht?«
Er lässt mich zappeln. Kaut genüsslich weiter. Wieso fällt mir erst jetzt auf, wie unangenehm mir dieser Kerl ist? Plötzlich bereue ich, zugestimmt zu haben, ihm von Marzellus‘ Informationen zu erzählen. Doch nun ist es zu spät.
»Kommt jetzt noch was oder beschränkt sich deine Analyse aufs Essen?«
»Ich weiß nicht, Nova. Wenn du mich fragst, ist das alles Blödsinn. Ganz ehrlich! Andere HUBs? Auf diesem Planeten? Völliger Schwachsinn.«
Etwas an der Art, wie er es sagt, irritiert mich. Wenn er die ganze Sache für Unsinn hält, wieso sagen seine Augen dann etwas anderes? Bilde ich mir das nur ein, oder will er mich für dumm verkaufen?
»Dann brauchen wir ja nicht weiter darüber reden. Wahrscheinlich hast du recht. Jakob hat auch schon versucht, es mir auszureden.«
Ich will mit ihm nicht weiter diskutieren. Er hat seinen Standpunkt deutlich gemacht. Ab jetzt werde ich keinem mehr davon erzählen und dafür sorgen, dass Jakob dies auch nicht mehr tut.
Bevor Kieran etwas erwidern kann, kommt Nume dazwischen. Ich habe sie in den vergangenen Tagen nur selten zu Gesicht bekommen. Mit einem lauten Knall stellt sie ihr Essen auf dem Tisch ab und stützt den Kopf auf die Hände. Sie sieht erbärmlich aus. Viel geschlafen hat sie in letzter Zeit sicher nicht.
»Wow! Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Jakob wirft Kieran einen strafenden Blick zu. Offenbar weiß sein Kumpel genau, was mit Mailo geschehen ist, und hat es entweder vergessen oder ist einfach nur unhöflich.
»Ich halte das nicht mehr aus. Alle starren mich an, aber niemand fragt mich, wie es mir geht. Es ist, als dürfe man nicht über Außeneinsätze reden. Als wäre es plötzlich ein Tabuthema.«
Tatsächlich war es das schon immer. Aber keiner von uns war bisher direkt betroffen. Aus dieser Perspektive erscheint die willkürliche Auswahl von Männern und Frauen für den Einsatz im Feuerland einfach tausendmal grausamer.
»Ganz ehrlich Leute, ich brauche Ablenkung. Worüber habt ihr gesprochen? Gibt’s was Neues?«
»Wir erörtern gerade die Existenz anderer HUBs.«
Ich könnte Kieran umbringen. Er lässt einfach nicht locker.
»Oh!«
Numes Blick wechselt von Kieran zu mir und dann zu Jakob.
»Er weiß inzwischen Bescheid«, sage ich und beginne damit, das geschmacklose Gemüse herunterzuwürgen. Wieder einmal frage ich mich, ob Brokkoli in der alten Zeit ebenso fade geschmeckt hat oder ob es eine Folge des Anbaus unter der Erde ist.
»Sehr gut! Mir ist da nämlich noch etwas eingefallen. Also wegen der HUBs und so.«
Natürlich will ich wissen, was Nume zu sagen hat, aber es wäre mir lieber, wir wären unter uns.
»Was ist, wenn unsere Urururgroßeltern es tatsächlich wussten, es uns aber mit Absicht nicht gesagt haben? Ich meine zu unserem eigenen Schutz? Denn mal im Ernst, was war euer erstes Bedürfnis, nachdem ihr von den anderen HUBs erfahren habt? Der erste Gedanke? Ganz intuitiv!«
Ich muss nicht darüber nachdenken. Es gibt nur eine Reaktion auf die neuen Informationen und ich bin mir sicher, dass es Jakob und Kieran ebenso geht.
»Ich wollte an die Oberfläche.«
»Richtig! So ging es mir auch. Aber vor dieser Marzellus-Geschichte wären wir nie auf den Gedanken gekommen, den HUB zu verlassen. Einfach, weil es keine Option war. Ohne ein Ziel gibt es keinen Grund, den Kopf aus dem sicheren Kaninchenbau zu stecken.«
Bei dem Wort Kaninchenbau muss ich schmunzeln. Ich verwende es ebenfalls oft, dabei hat niemand von uns je ein Kaninchen gesehen. Geschweige denn einen Kaninchenbau! Aber sie hat recht. Vor Marzellus‘ Erzählungen hätte keiner von uns das Bedürfnis gehabt, an die Oberfläche zu gehen. Nun hingegen muss ich mich mehrmals täglich zurückhalten, nicht mit dem Aufzug direkt ins dreißigste Level zu fahren, um dem Feuerland wenigstens auf 200 Meter nahe zu kommen.
»Worauf willst du hinaus?«
Jakob klopft ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Er muss zurück zur Arbeit. Wie wir alle.
»Na, ganz einfach. Ich glaube, dass es andere HUBs gibt UND dass unsere Vorfahren davon wussten. Allerdings nur in der ersten Generation. Sie haben es ihren Kindern einfach nicht gesagt.«
»Wieso sollten sie es denn bitte verheimlichen? Das ergibt doch keinen Sinn«, erwidert Kieran genervt.
»Doch, natürlich tut es das. Nehmen wir einmal an, dein Urururgoßvater weiß, dass die Erdoberfläche schon in wenigen Jahren nicht mehr bewohnbar sein wird. Und er hat seine Familie an den sichersten Ort der Welt gebracht. Was würde er tun, um sie zu schützen?«
Ich vollende ihren Gedanken.
»Er würde behaupten, dass es da oben nichts mehr gibt. Dass es gefährlich ist, was vermutlich auch stimmt, und dass es keinen Grund gibt, jemals wieder hinauszugehen.«
»Danke, Nova! Wenigstens eine denkt hier mit. Genau das meine ich. Und es würde doch auf die Situation passen oder etwa nicht? Somit gibt es andere HUBs, aber wir konnten gar nicht davon erfahren.«
Jakob steht unvermittelt auf und schnappt sich sein verschmiertes Tablett.
»Sorry, Leute, ich muss los. Wir sehen uns nachher, ja?«
Die Frage geht an mich und ich nicke zustimmend. Seine plötzliche Eile irritiert mich.
»Warte, ich komme mit. Philosophiert ihr nur weiter, ihr zwei Hübschen. Vielleicht kommt am Ende ja etwas dabei heraus, was der Wahrheit zumindest in Teilen entspricht.«
Kieran zwinkert mir überheblich zu und läuft hinter Jakob her, der bereits in Richtung Ausgang eilt.
»Komischer Kerl«, stellt Nume unverblümt fest.
»Ach was?«
Eine Weile essen wir schweigend weiter. Auch wenn Nume richtig liegt, ist dennoch vieles unklar und überhaupt, die ganze Situation bringt mich völlig aus dem Konzept. Vor zwei Wochen war meine größte Sorge, wie ich es schaffe, morgens pünktlich aufzustehen. Jetzt ist da plötzlich eine ganz neue Welt aufgetaucht und alles in mir will sie erkunden.
»Und? Hast du noch irgendwelche Ideen?«
»Wozu?«
»Na, zu den anderen HUBs natürlich! Ich finde, ich habe meinen Teil beigetragen. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Ich denke, hinter der ganzen Angelegenheit steckt noch viel mehr, als wir uns vorstellen können. Ich fürchte, es ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn der Regent und seine Leute es tatsächlich fertigbringen, knapp 5000 Menschen tagtäglich zu täuschen, liegt bestimmt noch mehr im Argen, als wir vermuten. Es gehört eine gehörige Portion krimineller Energie dazu, so viele Menschen zu hintergehen. Wer weiß, wozu die noch fähig sind?«
Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich kann Nume ansehen, dass sie sofort an Mailo denken muss. Doch so war es gar nicht gemeint. Vermutlich sind die Außeneinsätze tatsächlich nötig und nicht Teil einer generationsübergreifenden Verschwörung.
»Tut mir leid. Ich meinte das anders.«
»Schon gut. Ich weiß. Ich vermisse ihn einfach so sehr, Nova. Ich denke ständig, dass er wiederkommt. Aber das ist unmöglich. So naiv bin ich nicht. Es ist nur …«
Sie zupft gedankenverloren an der organischen Serviette herum. Wieder fällt mir auf, wie fertig sie aussieht.
»Seit du mir von dieser Sache erzählt hast, stelle ich mir vor, dass er nicht ins Ungewisse geschickt worden ist. Ich meine, die da oben wissen offenbar mehr als wir und haben sicher gute Gründe, uns ins Feuerland zu schicken. Vielleicht hilft Mailo beim Bau eines neuen HUBs oder vielleicht sogar einer echten Stadt. Ich meine, an der Oberfläche! Das kann doch sein?«
»Ja, vielleicht ist es so. Auf jeden Fall stimme ich dir zu, völlig grundlos schicken sie uns sicher nicht da raus.«
»Nova?«
»Hmm?«
»Ich will an die Oberfläche.«
»Ja, ich auch.«
»Nein, ich meine es ernst! Ich werde fragen, ob sie mich auch für das Außenteam haben wollen.«
Ich muss mich verhört haben.
»Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist viel zu gefährlich und außerdem hat sich noch nie jemand freiwillig gemeldet. Ich weiß nicht mal, ob das möglich ist. Bitte tu das nicht, Nume. Du bist jetzt nur …«
»Was bin ich? Traurig? Wütend? Emotional?«
Bissig schleudert sie mir die Worte ins Gesicht. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wäre Jakob ausgewählt worden, ich würde genauso reagieren.
»Ich meinte aufgewühlt. Du musst erst ein wenig Abstand bekommen, damit du wieder klar denken kannst.«
»Und Mailo nach und nach vergessen? Niemals. Ich habe furchtbare Angst davor. Ich weiß kaum noch, wie seine Stimme klingt, Nova. Und es ist erst ein paar Tage her. Ich will ihn nicht aus meinem Kopf kriegen. Ich will ihn wiederhaben. Basta! Du kannst es mir nicht ausreden. Ich werde mich bewerben.«
Es hat keinen Sinn. Ich kann sie hier und jetzt nicht umstimmen. Die Leute drehen sich bereits zu uns um. Nume ist völlig außer sich.
»Ist schon gut. Ich verstehe dich ja. Bitte sei mir nicht böse. Natürlich möchtest du ihn zurück. Aber versprich mir, noch eine Nacht darüber zu schlafen. Überhaupt glaube ich, dass du dringend etwas Schlaf benötigst.«
»Ich weiß. Ach, tut mir leid. Ich wollte nicht so aus der Haut fahren. Ach, verdammt!«
Sie wischt sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel und atmet zitternd ein. Am liebsten würde ich sie in einen Kokon hüllen und hundert Jahre schlafen lassen. Sie tut mir so leid.
»Wollen wir?«
Ich nicke mitfühlend und wir verlassen zusammen das Fress-Level, um zurück an die Arbeit zu gehen. Lust habe ich nicht. Ich tue jeden Tag dasselbe. Jeden verdammten Tag. Vormittags reguliere ich die Düngemittelzusätze und nachmittags sind die schweren Maschinen dran. Zusammen mit meinem Vorabeiter gehe ich von Anlage zu Anlage, notiere mir die Werte der Druckventile, den Sauerstoffgehalt und den Energieverbrauch, nur um dann am Ende meines eintönigen Arbeitstages einen Bericht zu verfassen, der eigentlich immer den gleichen Inhalt hat. Beinahe nie passiert etwas Spannendes.
Nur einmal ist Reaktor vier ausgefallen und wir mussten die Energiezufuhr durch die Zusammenschaltung von zwei Hilfsgeneratoren stabilisieren. Das war ein Tag … Vermutlich der aufregendste in meinem Leben. Gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Hin und wieder macht mir die Arbeit auch Spaß. Mit meinen Kollegen im Abschnitt 25-B verstehe ich mich super. Und natürlich ist mir klar, dass meine Tätigkeit auf keinen Fall sinnlos oder unwichtig ist. Ich trage meinen Teil dazu bei, den HUB am Laufen zu halten. So wie wir alle es tun und so wie es unsere Vorfahren getan haben. Jeden Tag. Seit nunmehr 130 Jahren.
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4. VERRAT
Später am Abend treffen Jakob und ich uns an unserem Lieblingsplatz. Bereits als Kinder haben wir ihn für uns entdeckt. Es ist eine Art toter Winkel, zumindest nennen wir ihn so. Er liegt zwischen zwei Ebenen und genau auf halber Strecke zwischen Jakobs und meiner Wohneinheit. Dass er weder auf dem einen noch dem anderen Level liegt, macht ihn besonders attraktiv. Sollten die Aufzüge im Ernstfall einmal nicht funktionieren, gibt es im HUB natürlich auch Treppenhäuser, doch diese werden selten genutzt. Zwischen den Ebenen befinden sich kleine Zwischenebenen. Meistens werden sie als Lager oder Stellplatz genutzt. Doch unser Lieblingsort ist eher wie das Vorzimmer der Medi-Station. Es gibt Stühle und sogar einen Tisch. Wer sie dort hingestellt hat, wissen wir nicht, aber in all den Jahren unserer Freundschaft ist uns hier nie jemand begegnet. Offenbar haben nur wenige Menschen im HUB das Bedürfnis auch einmal alleine zu sein oder Treppen zu steigen. So nutzen Jakob und ich die übersichtliche Zwischenebene als regelmäßigen Treffpunkt.
Er wartet bereits auf mich, als ich das Treppenhaus betrete. Etwas stimmt nicht. Er zieht ein langes Gesicht, das kann ich schon erkennen, bevor ich die letzten Stufen genommen habe.
»Was ist los? Du siehst bedrückt aus.«
»Es ist wegen Kieran.«
Sofort werde ich hellhörig. Es ist nicht das erste Mal, dass Jakob und ich die Dinge ähnlich wahrnehmen. Mir war heute Mittag sofort aufgefallen, wie seltsam Kieran sich benommen hat.
»Was meinst du?«
Bevor ich Jakob meinen Verdacht nahelege, will ich es aus seinem Mund hören.
»Ich bin nicht sicher. Als ich ihm vor zwei Tagen von der ganzen Sache erzählt habe, war er richtig aufgeregt. Er hat nicht wirklich etwas dazu gesagt, aber ich konnte es ihm anmerken. Du kennst ihn ja, er hat dann dieses Leuchten in den Augen. Wie ein wilder Hund, der sich irgendwo festbeißen will.«
»Eigentlich kenne ich ihn nicht. Aber ich denke, ich weiß, was du meinst.«
»Und findest du es dann nicht auch seltsam, wie er sich heute benommen hat? Ich meine, er hat die ganze Geschichte ja noch mehr belächelt, als ich es getan habe!«
»Getan hast? Bedeutet das, du glaubst Marzellus inzwischen doch?«
Kaum zu glauben. Erst tut Jakob, als wäre die Story völlig aus der Luft gegriffen, und nun findet er es plötzlich mies, dass Kieran sie nicht ernst nimmt. Ich wittere meine Chance, Jakob doch noch zu überzeugen.
»Nun ja, ich würde nicht sagen, dass ich vollends überzeugt bin, aber natürlich habe auch ich mir meine Gedanken gemacht. Vermutlich ist es nicht ausgeschlossen, dass dein Techniker die Wahrheit erzählt.«
»Und woher der plötzliche Sinneswandel?«
»Keine Ahnung. Ich habe hin und her überlegt. Letztendlich erscheint mir die Wahrscheinlichkeit, dass wir belogen werden, eben weitaus höher als das Gegenteil. Zum Beispiel diese Sache mit Mailo. Wenn es da oben wirklich so gefährlich ist, dann macht es doch keinen Sinn, Leute hochzuschicken. Das ist doch pure Verschwendung, wenn du mich fragst. Ist nicht Sinn und Zweck dieser ganzen Einrichtung die Erhaltung der menschlichen Spezies? Warum zum Teufel sollten wir dann gute Männer und Frauen in den sicheren Tod schicken?«
Seine Worte versetzen mir einen Stich. Sofort sehe ich wieder die weinende Nume vor mir und mein Mitleid ist grenzenlos. Ist Mailo todgeweiht? Ich kann nur hoffen, dass Jakob sich irrt.
»Im Grunde hast du recht. An der Temperatur kann es wohl kaum liegen. Immerhin schicken wir das Außenteam ja raus. Was ist mit der Strahlung? Das wäre doch eine Rechtfertigung, uns hier unten zu halten. Immerhin sind wir hier sicher.«
»Klar, an die Strahlung habe ich auch gedacht. Allerdings wäre sie, in meinen Augen, der einzige Grund, unter der Erde zu bleiben.«
»Und?«
»Was, wenn es keine Strahlung gibt? Oder vielleicht nur geringe Mengen oder nur in bestimmten Teilen des Kontinents?«
Das klingt einleuchtend. Wenn man uns bezüglich der Erdpopulation belogen hat, wieso dann nicht auch in Bezug auf die Strahlung an der Oberfläche?
»Ich muss mich setzen!«
Ich lasse mich auf den nächstbesten Stuhl fallen und überlege. Es kreisen inzwischen so viele Theorien in meinem Kopf, dass ich nicht mehr sicher bin, was ich für logisch, was für wahr und was für Blödsinn halte. Letzten Endes komme ich ohnehin immer zu demselben Ergebnis.
»Jakob?«
»Jup.«
»Wir müssen an die Oberfläche gehen.«
Stille.
»Hörst du?«
»Das soll ja wohl ein Witz sein!«
»Keineswegs. Oder hast du vielleicht eine bessere Idee?«
»Tausende!«
»Eine, mit der wir der Lösung des Rätsels näher kommen?«
»Keine.«
»Siehst du!«
»Nova, ganz echt jetzt! Wir können da nicht raus. Selbst wenn wir es wollten, wir kommen nicht über Level 28 hinaus. Keiner würde uns weiter hoch lassen. Und falls doch, dann sicher nicht über 29 hinaus! Schlag dir das aus dem Kopf. Du wirst uns nur Ärger einhandeln. Vielleicht hast du keine Eltern mehr, die dich auseinandernehmen würden, wenn es dazu kommt, aber ich will mir das nicht antun!«
Das hat gesessen. Die Anspielung auf meine Eltern war unnötig und sofort spüre ich, wie mir die Tränen hochkommen. Jakob bemerkt seinen Fehltritt leider zu spät. Ich stehe langsam auf und starre ihn wütend an.
»Dann mache ich es eben allein!«
Zack, weg bin ich. Soll er doch sehen, wie er ohne mich klar kommt! Mein Herz rast. Ich bin wirklich, wirklich stinksauer.
Als ich fünf Minuten später in meinem Bett liege, fällt es mir schwer, einzuschlafen. Doch die Ereignisse der letzten Tage fordern glücklicherweise irgendwann ihren Tribut und ich sinke in einen traumlosen Schlaf.
Als ich wieder aufwache, ist es noch Nacht. Nicht, dass man es im HUB mitbekommen würde, ob es draußen hell oder dunkel ist, die Beleuchtung meiner Wohneinheit verrät es mir. Wäre es bereits Morgen, würde die Decke leicht glühen. In diesem schrecklichen Grau-Weiß, das ich so verachte.
Mein Gehirn versucht, meinem Körper in den Wachzustand zu folgen. Mühsam suche ich nach dem Geräusch, welches meine Nachtruhe gestört haben muss. Doch es war gar kein Geräusch. Es ist diese riesige Hand, die auf meinem Mund liegt. Jemand drückt sie mir ins Gesicht, in meiner Wohneinheit, zu der nur ich Zutritt habe! Panik erfasst alle meine Sinne. Was tun? Schreien würde nichts bringen. Die Wohneinheiten sind alle schalldicht. Und dann ist da ja noch diese Hand. Ich bekomme kaum Luft.
Bevor ich jedoch weitere Pläne schmieden kann, spüre ich einen unangenehmen Schmerz im linken Oberarm. Etwas hat mich gestochen. Nein, nicht etwas, jemand hat mir eine Nadel in den Arm gerammt! Ich muss träumen! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. In all den Jahren hat sich noch nie eine Person, die nicht zur Familie gehört, Zutritt verschafft. Hier KANN niemand rein.
Ich versuche, mich zu wehren, strampele mit den Beinen und erwische etwas mit dem Fuß. Es sind mehrere Personen. Verdammt! Wieso befinden sich mitten in der Nacht Fremde in meinem Raum? Weiter versuche ich, mich irgendwie von der groben Hand zu befreien, doch meine Bewegungen werden langsamer, mir schwinden die Kräfte. Sie haben mir ein Mittel gespritzt und gleich werde ich das Bewusstsein verlieren. Ob es Gift ist? Werde ich wieder aufwachen? Wieso sagt keiner von ihnen etwas? Am Rande meines Blickfelds tauchen kleine, leuchtende Punkte auf. Dann spüre ich, wie meine Hand, die eben noch versucht hat, sich an der Kleidung meines Angreifers festzukrallen, schlaff wird und auf meine Brust niedersinkt. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Die grobe Hand wird weggenommen, doch es ist zu spät für mich. Ich sehe gerade noch die schemenhaften Umrisse von mindestens drei Personen, dann wird alles schwarz.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf nacktem Beton. Meine Augen sind geöffnet, aber alles ist irgendwie verschwommen. Langsam erkenne ich einen Umriss, direkt vor mir. Ein Mann! Er sitzt knapp einen Meter entfernt auf einem Wandvorsprung, der wohl als Pritsche dienen soll. Erschrocken weiche ich zurück und pralle hart mit dem Kopf gegen die Wand. Der Raum ist maximal drei mal drei Meter groß. Mein Schädel dröhnt, doch ich rutsche rückwärts weiter, in die nächste Ecke, als erwarte mich dort Sicherheit.
»Nova.«
Er weiß, wer ich bin! Natürlich. Er hat mich hierher gebracht.
»Nova, beruhige dich. Ich bin es, Jakob!«
»Jakob?«
»Ja, ich bin’s. Keine Angst.«
Ich muss mich erst mal umsehen, die Situation erfassen. Was macht er hier und wieso sitzen wir gemeinsam in einem, mir völlig unbekannten Raum? Dann entdecke ich Nume. Sie liegt neben Jakob und hat sich, wie ein kleines Kind, zusammengerollt. Offenbar schläft sie oder ist noch nicht zu sich gekommen. Es ergibt einen Sinn. Wir wurden alle drei auf dieselbe Weise hergebracht. Aber wieso?
»Wie lang war ich weg?«
Jakob zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich bin auch erst vor ein paar Minuten aufgewacht.«
»Oh.«
Ich finde keine Worte. Die Situation ist so merkwürdig unecht. Es kann sich dabei nur um einen Albtraum handeln.
»Ist das hier ein Gefängnis?«
Ich kenne das Wort nur aus alten Aufzeichnungen. Ich bin mir sicher, so etwas gibt es im HUB nicht. Und doch sitze ich in dieser Betonkammer.
»Keine Ahnung. Ein Wartezimmer ist es jedenfalls nicht.«
Nume beginnt sich zu regen. Schnell eile ich zu ihr. Sie soll nicht genauso verängstigt wie ich sein, wenn sie aufwacht. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter und warte, bis sie langsam zu sich kommt. Dabei sehe ich Jakob an und versuche in seinen Augen zu lesen, ob er in Panik ausbrechen oder uns beschützen wird. Doch er hat den Denkerblick aufgesetzt. Unmöglich für mich herauszufinden, wie sein Gemütszustand ist.
»Nume? Hey, ich bin’s, Nova. Alles o. k. mir dir? Kannst du dich aufsetzen?«
»Ich denke schon. Gott, was ist denn los? Wo bin ich?«
Sie hat noch nicht begriffen, was passiert ist, wirkt aber relativ ruhig. Vielleicht hatte sie mehr Glück als ich und hat die Männer nicht gesehen, ist vielleicht gar nicht aufgewacht durch den nächtlichen Besuch.
»Wir wissen es nicht. Jakob ist auch hier. Wir sind irgendwo hingebracht worden. Geht es dir so weit gut?«
»Was meinst du, mit „irgendwo hingebracht“? Soll das ein Scherz sein? Wieso?«
Jetzt ist sie richtig wach und voller Tatendrang. Sie springt auf, verliert kurz das Gleichgewicht, fängt sich wieder und stürmt zu der massiven Tür, die, wie ich jetzt erst bemerke, keinen Griff und keinen Öffnungsmechanismus besitzt.
»Hallo? Haaaalloooo? Lasst uns hier raus, verdammt! Aufmachen! Sofort!«
Sie trommelt wie wild gegen die Tür und ich könnte wetten, dass es auf der anderen Seite höchstens ein leichtes Wummern erzeugt. Was zur Hölle ist das hier?
»Nova. Ich glaube, wir sollten uns überlegen, was wir sagen.«
Offenbar hat Jakob seine Grübeleien beendet und möchte sich nun einen Plan zurechtlegen.
»Was meinst du damit? Was sollen wir denn sagen und wem?«
»Irgendwann wird jemand durch diese Tür kommen und uns Fragen stellen.«
»Und wenn nicht? Ich meine, vielleicht stellen sie keine Fragen? Woher willst du wissen, was als Nächstes kommt? Wieso sind wir überhaupt hier? Ich meine, wir drei!«
Jakob blickt mich nur frustriert an und mit einem Schlag wird mir klar, was geschehen ist. Kieran hat uns verraten. Er ist der Einzige, der nicht im Schlaf entführt und in eine Zelle geworfen wurde. Dieser hinterhältige, miese Hund. Ich wusste gleich, dass sein Benehmen nichts Gutes zu bedeuten hatte. Andererseits ist auch Marzellus nicht hier. Aber wieso sollte er mir diese Geschichte auftischen und uns dann in Schwierigkeiten bringen? Ich bin mir sicher, dass es Kieran war. Jakob und ich hatten beide ein mieses Gefühl bei ihm und nun bestätigt es sich.
»Wenn sie uns keine Fragen stellen, sollten wir uns Sorgen machen.«
Er hat recht. Trotzdem habe ich keinen Schimmer, was sie von uns wollen. Aber Jakob scheint sich schon etwas überlegt zu haben.
»Ich schlage vor, wir bleiben so wage wie möglich. Fang bloß nicht an, wieder von deinen Plänen zu erzählen. Dass du an die Oberfläche willst und so.«
Ich schüttele den Kopf, will ihm versichern, dass ich verstanden habe.
»Du denkst also auch, dass wir hier sind, weil wir es herausgefunden haben?«
»Ja.«
»Fuck!«
»Ja.«
»Es war Kieran, nicht wahr?«
»Ich fürchte ja.«
»Verdammt! Hätten wir ihm bloß nichts davon erzählt.«
»Das konnte ja keiner ahnen.«
»Und wie bitte sollen wir das verharmlosen? Man, Nume! Hör jetzt auf, gegen diese Tür zu hämmern! Sie werden noch früh genug hier auftauchen!«
Doch damit habe ich mich geschnitten.
Es vergeht eine lange, quälende Zeit des Wartens, bis der schwere Schließmechanismus der Tür endlich ein Geräusch von sich gibt.
»Nova?«
»Ja?«, hauche ich ängstlich.
»Tut mir leid, was ich da über deine Eltern gesagt habe. Du weißt, es war nicht ernst gemeint?«
»Ich weiß. Ist schon gut, Jakob.«
Ich habe mich noch nie so verbunden mit ihm gefühlt. Wir werden das hier irgendwie überstehen. Was soll schon passieren? Zugegeben, die Zelle ist ziemlich furchteinflößend, aber vielleicht ist genau das ihr Zweck? Wahrscheinlich soll sie uns einschüchtern, ein wenig zermürben. Dann können sie uns eine Moralpredigt halten und uns mit einer Abmahnung heimschicken.
Nume kauert sich neben Jakob und mich, während wir alle drei gebannt auf die Tür starren. Diese beginnt sich nun gemächlich zu öffnen. Licht fällt in den kleinen Raum und alles in mir möchte losstürzen und aus diesem beengten Verlies fliehen. Aber wir sitzen ganz still da und warten artig.
Ein Mann tritt hinein. Er sieht jung aus und wirkt wenig furchteinflößend. Aber er scheint bloß die Vorhut zu sein. Ohne uns zu beachten, sieht er sich kurz in der Zelle um und tritt dann zur Seite, um seinem Nachfolger den Weg frei zu machen. Dieser strahlt bedeutend mehr Autorität aus. Er trägt einen Anzug, wie ich ihn nur von Bildern oder aus dem Info-Kanal des HUBs kenne. Wichtige Männer tragen diese Art Kleidung. Sie ähnelt den organischen Kleidungsstücken der alten Zeit. Doch dann bemerke ich, dass er sich nicht extra rausgeputzt hat. Er sieht verschlafen aus und sein dunkelgraues Hemd ist oben offen, als hätte er es nicht geschafft, es zuzumachen, oder sich entschlossen, es nach einer langen Nacht etwas zu öffnen, um es bequemer zu haben. Als er zu sprechen beginnt, dröhnt seine Stimme von den Wänden der Zelle zurück.
»Nume, Jakob und Nova.«
Es ist keine Frage. Er weiß genau, wen er vor sich hat. Beim Klang meines Namens packt mich die nackte Angst. Was jetzt kommt, kann nichts Gutes bedeuten.
»Ihr habt für große Unruhe gesorgt. Bitte versteht, dass wir dies nicht unbeachtet durchgehen lassen können.«
Er macht eine theatralische Pause, um abzuschätzen, wie seine Worte auf uns wirken. Nachdem er jeden von uns eindringlich gemustert hat, scheint er zufrieden und fährt fort.
»Ihr werdet mir nun ganz genau berichten, was ihr zu wissen glaubt, und welche Lügen ihr im HUB verbreitet habt. Anschließend wird es eine Abstimmung geben und wir werden entscheiden, wie mit euch verfahren wird.«
Das klingt gar nicht gut. Ich taste nach Jakobs Hand. Wie drei kleine Kinder hocken wir auf unserer Anklagebank.
»Die erste Frage lautet: Wo ist Marzellus H1C-103? Und ich rate euch, von Anfang an ehrlich zu mir zu sein.«
Schockiert schauen Nume, Jakob und ich uns an. Diese Frage haben wir nicht erwartet. Wir haben uns ein wenig abgesprochen, was die Geschichte mit den anderen HUBs angeht, aber hierauf ist niemand gefasst. Schließlich ergreift Jakob das Wort und ich drücke dankbar seine Hand.
»Wir wissen es nicht, Prätor. Wir sehen ihn nicht oft und können nur raten. Aber wenn Sie fragen, gehe ich davon aus, dass er nicht in seiner Wohneinheit ist. Dort würde ich ihn vermuten.«
Prätor? Natürlich! Der Kerl ist der zweitwichtigste Mann im HUB. Ich habe ihn nicht erkannt, aber Jakob schon. Ich versuche, mein Wissen über ihn anzuzapfen, doch viel gibt es nicht. Er ist zuständig für die reibungslosen Abläufe im HUB. Für die Organisation und natürlich … für die Sicherheit.
»Ihr wisst also nicht, wo er sich aufhält?«
»Nein«, antwortet Jakob wahrheitsgemäß und hält dem einschüchternden Blick des Prätors stand.
»Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«
Die Frage geht an mich. Ich versuche, möglichst selbstsicher zu klingen und seinem Blick nicht auszuweichen, so wie es Jakob vorgemacht hat.
»Vor ein paar Tagen. Jakob und Nume kennen ihn nicht gut. Ich habe mich hin und wieder mit ihm getroffen.«
Ein schwacher Versuch, meine Freunde in Schutz zu nehmen. Ob es funktioniert?
»Wie gut kennst du ihn?«
»Wir sind uns vor zwei Jahren begegnet. Es war bei einem Contest. Wir waren Gegner und ich habe ihn besiegt. So kamen wir ins Gespräch.«
Das ist die Wahrheit. Ich verzichte allerdings darauf, auf den Inhalt unseres Gesprächs einzugehen. Marzellus ist fünf Jahre älter als ich. Er war erstaunt über meine Fähigkeiten im Kampf. Das wir gegeneinander angetreten waren, schien zunächst unfair, wegen des Altersunterschieds. Aber ich hatte ihn in drei Runden erledigt und daher war er enorm beeindruckt. Ein Contest im HUB dient hauptsächlich der Unterhaltung. Während die Kontrahenten im virtuellen Ring kämpfen, tobt die Menge und feuert ihren jeweiligen Liebling an. Ich war eine der jüngsten Kämpferinnen und viele hatten auf Marzellus gesetzt. Doch mit ein paar geschickten Ausweichmanövern konnte ich meinen Gegner schnell ermüden. Er wurde langsamer und schließlich schaffte ich es, ihm die Beine wegzutreten und ihn auf dem Boden festzunageln. In der holografischen Illusion des staubigen Feuerlands lag der besiegte Marzellus im Sand und hob den Arm, um zu signalisieren, dass er geschlagen war.
Nach dem Kampf nahm er mich zur Seite und wir unterhielten uns. Er bot mir an, mich zu unterrichten und mir andere Techniken zu zeigen, die normalerweise erst später auf meinem Lehrplan standen. Da Sportkampf mein Lieblingsfach war, zögerte ich nicht lang und wir trafen uns regelmäßig im virtuellen Übungsraum des Schul-Bezirks, um zu trainieren. Seither pflegen wir eine lockere Freundschaft. Marzellus ist einfach unfassbar interessant. Er hat mehr Erfahrung als ich und arbeitet als Techniker. Dadurch kommt er viel im HUB herum und seine Geschichten faszinieren mich. Doch seine letzte Geschichte hat alles übertroffen und nun sitze ich hier und muss dafür geradestehen.
»Unterhältst du dich oft mit ihm.«
»Hin und wieder.«
»Und was hat er dir zu erzählen?«
»Wir reden oft über seine verstorbene Frau. Manchmal über das Essen oder die Leute im HUB.«
»Ihr redet also über den HUB? Erzähle mir, was er vor ein paar Tagen zu dir gesagt hat, bevor er verschwunden ist.«
Nun wird es ungemütlich. Wie soll ich reagieren? Ich versuche, meinen Blick weiter auf den Mann vor mir zu richten, obwohl alles in mir sich danach sehnt Jakobs Rat einzuholen. Was soll ich sagen?
»Er sagte, er hätte etwas gehört. Durch einen Belüftungsschacht.«
»Was hat er gehört, Nova?«
»Eine Unterhaltung zwischen zwei Personen. Es ging um … um andere HUBs.«
Nun ist es raus. Es ist die Wahrheit. Wenn der Prätor nicht schon längst darüber Bescheid wüsste, wären wir nicht hier. Warum also lügen?
»Es gibt keine anderen HUBs, das weißt du sicher?«
Jetzt ist schauspielerisches Talent gefragt.
»Natürlich! Es war ja auch bloß eine seiner Geschichten. Er hat es sich nur ausgedacht, um mich zu beeindrucken. Das ist mir klar.«
»Ist es das?«
Der Prätor lehnt sich ein Stück nach vorn und kneift seine Augen zusammen. Er starrt mich prüfend an.
»Sicher. Jeder weiß, dass wir die letzten Nachkommen sind. Wir haben überlebt, dank unserer Vorväter, dank den Erbauern des HUBs.«
»Und du weißt nicht, wo sich Marzellus jetzt aufhält?«
»Nein, Prätor. Ich weiß es leider nicht.«
Er scheint sich mit meiner Antwort zufriedenzugeben. Mein Herzschlag beruhigt sich wieder etwas. Vielleicht können wir uns aus der Misere irgendwie herauswinden. Es als dummen Streich abtun.
»Nume, was sagst du dazu?«
Ich spüre, wie Nume neben mir zusammenzuckt. Der Prätor ist offenbar fertig mit mir und will nun ihre Version der Geschichte hören.
»Ich kenne Marzellus nicht.«
»Ich möchte wissen, was du von Novas Geschichte hältst. Glaubst du, dass es andere Menschen außer den Bewohnern des HUBs 1 gibt?«
Sie zögert. Schockiert sehe ich Wut in ihren Augen aufflammen. Sie wird es verpatzen. Ich halte den Atem an.
»Nein, Prätor. Ich glaube nicht, dass es andere Überlebende gibt.«
Unmerklich stoße ich die angehaltene Luft aus und wage es, kurz die Augen zu schließen. Sie reißt sich zusammen. Gut.
»Und wieso glaubst du das?«
Er lässt nicht locker. Ich kann nur hoffen, dass Nume ruhig bleibt. Mailos Einberufung hat ihr stark zugesetzt. Ihre Sympathien gegenüber der HUB-Leitung sind nicht mehr groß, das ist mir klar.
»Nun, ich bin mir sicher, wenn es da draußen andere HUBs gäbe, hätte der Regent uns darüber informiert. Oder etwa nicht?«
Verdammter Mist. Verdammt, verdammt, verdammt! Wieso tut sie das? Ist sie wahnsinnig? Als säßen wir nicht schon tief genug in der Scheiße! Und sie feuert das Misstrauen des Prätors noch an!
Seine Augen sind nun weit aufgerissen und seine Nasenflügel beben. Ihre spitze Bemerkung hat ihr Ziel nicht verfehlt.
»Sicher, mein Kind. Der Regent hätte euch informiert. Das siehst du ganz richtig.«
Er tritt einen Schritt zurück und signalisiert dem Mann, von dem ich inzwischen glaube, dass er eine Art Soldat ist, den Raum zu verlassen.
»Also schön. Eine Sache noch. Wem habt ihr drei denn noch von dieser erfundenen Geschichte erzählt? Ihr könnt euch sicher denken, dass solch unverfrorene Lügen im HUB nicht die Runde machen dürfen. Ich würde das Ausmaß des Schadens also gerne kennen.«
»Ich habe meinem Freund Kieran H1E-077 davon erzählt. Aber er hat es ganz sicher nicht weitergegeben. Darum habe ich ihn gebeten.«
Jakob spielt den Naiven. Gut.
»Gut. Dann werden wir nun abstimmen. Ihr werdet zur Urteilsverkündung gerufen, wenn es so weit ist. Bis dahin geht in euch und denkt über eure Taten nach.«
Wir nicken im Kollektiv und beobachten, wie der Prätor die Zelle verlässt. Seine schweren Schritte sind im Gang vor der Tür zu vernehmen, bis diese sich schließt. Dann sind wir wieder allein.
»Verflucht, Nume! Was sollte das?«
Jakob ist stinksauer.
»Was denn?«
»Diese dumme Anspielung auf den Regenten? Willst du uns noch tiefer reinreiten? Nova hatte ihn so weit, zu glauben, dass wir das Ganze für einen Scherz halten. Deine hirnverbrannte Aussage hat seinen Verdacht erst wieder angeheizt!«
Nume senkt schuldbewusst den Blick. Sie hat verstanden und bereut ihre Worte sicher schon. Es ist ohnehin zu spät. Wer auch immer über uns abstimmen soll, hat nun alle Informationen. Wir können nur noch abwarten.
»Was meint ihr, wo Marzellus ist? Ich meine, sich im HUB zu verstecken, ist doch nicht möglich, oder?«
Die Frage brennt mir schon die ganze Zeit auf der Seele. Jakob macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Was weiß ich? Ist mir auch schnuppe. Der Kerl soll sich bloß gut verstecken! Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihm nämlich eine verpassen!«
»Jakob! Er ist vielleicht in Gefahr! Sei nicht so ungerecht. Er kann doch nichts dafür, dass er das Gespräch belauscht hat.«
»Aber er kann etwas dafür, dass wir hier festsitzen und der Prätor persönlich über uns richtet. Herrgott! Ich habe eine Karriere, die in Gefahr ist wegen diesem Quatsch, Nova!«
Typisch Jakob. Sein Erfolg geht ihm über alles. Lieber würde er bis ins höchste Level aufsteigen, als tatsächlich andere Überlebende zu finden. Erneut wird mir klar, dass er das Ausmaß von Marzellus‘ Entdeckung nicht begriffen hat. Wenn es andere Menschen gibt, ist vielleicht alles, was wir kennen, nur eine große Lüge. Seine Karriere ist möglicherweise nichts wert, wenn man das Bild im Großen und Ganzen betrachtet.
Nun schaltet sich Nume wieder ein.
»Was auch immer bei ihrer merkwürdigen Abstimmung herauskommt, eines ist jetzt ja wohl klar. Marzellus hat nicht gelogen.«
»Wie kommst du darauf?«, frage ich irritiert.
»Na kommt schon, Leute! Wenn er gelogen hätte, würden die ja wohl kaum so einen Aufstand machen. Man hat uns aus unseren Betten heraus entführt! Meine Familie war im Raum nebenan und hat sicher nichts bemerkt. Das haben die nicht zum ersten Mal so gemacht. So etwas tut man nur, wenn man Angst hat.«
»Angst vor was?«
»Vor dem, was wir wissen.«
Sie hat recht. Durch das harte Durchgreifen bestätigen sie unsere wilden Theorien nur noch. Plötzlich habe ich das ungute Gefühl, dass es gar keine Abstimmung gibt oder dass sie, auch ohne Numes zickige Attacke, schlecht für uns verlaufen wird.
5. VERURTEILUNG
Wir müssen irgendwann eingeschlafen sein, denn das Grollen des Türschließmechanismus weckt mich unsanft auf. Wie viel Zeit ist vergangen? Ich bin relativ ausgeruht, also haben sie sich sicher länger beraten. Im hereinfallenden Licht erkenne ich nun den Soldaten von vorhin. Wieder kann ich keinerlei Regung an seinem Gesicht ablesen.
»Aufstehen! Und dann kommt alle mit.«
Nume drückt unsicher meine Hand und langsam trotten wir dem jungen Soldaten hinterher. Neugierig betrachte ich meine Umgebung. Der Gang, durch den er uns führt, ist lang und schmucklos. In regelmäßigen Abständen befinden sich die vertrauten Tageslichtleuchten an der Decke. Alle paar Meter sind auf beiden Seiten Türen vom gleichen Typ wie in unserer Zelle. Wir passieren zwei Schleusen. Vor jeder befindet sich ein weiterer Soldat. Im HUB habe ich vorher noch nie Soldaten gesehen. Wie viele von ihnen mag es geben? Und wo wohnen sie? Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Was, wenn der Außeneinsatz in Wirklichkeit die Berufung in einer Art Sicherheitstruppe ist? Möglicherweise befindet sich Mailo auf dieser Ebene und leistet seinen Dienst ab?
Nachdem wir die letzte Schleuse passiert haben, verändert sich der Gang. Er ist nun deutlich breiter und die Details lassen vermuten, dass es sich hierbei nicht mehr um den „Gefängnistrakt“ handelt. Die Wände sind nicht roh und ungestrichen, sondern mit einem merkwürdigen Überzug bedeckt. Am liebsten würde ich sie anfassen, aber ich traue mich nicht. Einige der Türen, rechts und links des Ganges, stehen offen. Ich versuche, unauffällig einen Blick in einen der Räume zu werfen, aber wir gehen zu schnell. Dann kreuzt ein Quergang unseren Weg. Ich muss mich entscheiden, welche Seite ich begutachten will, falls wir nicht abbiegen. Der Soldat geht weiter geradeaus, also lasse ich meinen Blick im Vorbeigehen nach rechts schweifen. Ich habe nur vier Schritte Zeit, aber am Ende des etwas kürzer geratenen Ganges kann ich ein massives Schiebetor ausmachen. Gelbe und schwarze Streifen markieren die Mitte der dicken Luke. Dann haben wir die Kreuzung passiert.
Ich schaue Jakob an und versuche, eine hoffnungsvolle Miene aufzusetzen, doch es gelingt mir nicht so richtig. Nume schleicht halb wütend, halb verängstigt hinter uns her. Einerseits möchte ich, dass es endlich vorbei ist, andererseits ist das hier sozusagen unsere Gnadenfrist. Jeder Meter bringt uns dem Tribunal näher. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie sich diese ominöse Gruppe zusammensetzt. So etwas wie Gerichtsverfahren gibt es im HUB nicht. Zumindest dachte ich das bisher.
Plötzlich bleibt unser Anführer vor einer der Türen auf der rechten Seite stehen. Intuitiv habe ich vermutet, dass unser Ziel die gewaltige Tür am Ende des Ganges sein würde, doch da habe ich mich offenbar geschnitten. Wir sind da. Der junge Mann macht auf eine höchst seltsame Weise stehend kehrt und öffnet die vergleichsweise kleine Tür.
»Sprecht nur, wenn ihr aufgefordert werdet«, lautet seine knappe Anweisung.
Jakob nickt gehorsam und wir treten ein.
Der Raum ist riesig. Auf beiden Seiten gibt es lange Reihen mit Sitzgelegenheiten, doch sie sind leer. Ich überschlage die Zahl und komme auf circa 400 bis 500 Plätze. Trotz der bedenklichen Situation, in der ich mich befinde, zieht mein Verstand automatisch seine Schlüsse aus dieser Tatsache. Die Menschen, die sich hier versammeln, stammen nicht aus unserem HUB. Dafür ist das Platzaufgebot zu groß. Wenn auf einmal 500 Menschen fehlen würden, um sich hier zusammenzufinden, wäre uns das sicher schon mal aufgefallen.
Unsicher durchqueren wir die überdimensionale Räumlichkeit, um dann, fünf Meter vor einem lang gestreckten Pult anzuhalten. Dahinter sitzen insgesamt vier Personen. Zu meinem Erschrecken muss ich feststellen, dass einer von ihnen der Regent persönlich ist. Daneben sitzt natürlich der Prätor als seine rechte Hand. Die zwei anderen habe ich noch nie gesehen. Einer von ihnen ist eine Frau. Auch sie trägt unglaublich verrückte Kleidung. Zumindest erscheint sie mir so. Natürlich kann ich sie nur ab der Taille aufwärts sehen, da sie hinter dem Pult sitzt. Um ihren Hals trägt sie eine lange Kette, an dessen Ende eine kleine, glänzende Karte baumelt. Bei genauerer Betrachtung fällt mir auf, dass alle vier diese Kette tragen. Manche von ihnen verstecken sie allerdings unter ihrer Kleidung. Vielleicht ist es praktischer so. Es muss sich um eine Art Ausweis oder Schlüssel handeln.
»Nova H1G-615, Jakob H1D-889 und Nume H1G-333. Über euch sowie den Verräter Marzellus H1C-103 wird heute geurteilt.«
Die Stimme des Prätors donnert uns entgegen. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht ein kleines Stück zurückzuweichen. Ich dachte, es war von einer Abstimmung die Rede. Doch er benutzt das Wort „urteilen“. Das kann nichts Gutes bedeuten.
»Da Marzellus H1C-103 derzeit nicht auffindbar ist, werden wir sein Urteil in Abwesenheit verkünden. Hat einer von euch noch etwas zu sagen?«
Ratlos blicken Jakob und ich uns an. Wer soll etwas sagen und was überhaupt? Ist jetzt die Zeit, für eine Entschuldigung? Oder erwarten sie, dass wir uns verteidigen? Schließlich ergreift Jakob das Wort.
»Ehrenwertes Kabinett, wir möchten uns in aller Form für die Lügen, welche wir beinahe verbreitet hätten, entschuldigen und verstehen nun, dass der Schutz der Bewohner des HUBs 1 an allererster Stelle steht. Wir erklären uns mit jeder Strafe einverstanden und schwören, dass so etwas nie mehr vorkommen wird!«
Woher weiß er, wie er sich verhalten soll? Dass die vier Personen vor uns das Kabinett sind, war mir jedenfalls nicht klar. Jakob muss bei seiner Arbeit auf Level 27 wesentlich mehr über die Strukturen des HUBs erfahren haben als ich in meinem ganzen Leben. Ein Anflug von Neid vermischt sich mit meiner Angst.
»Wir haben die Erklärung zur Kenntnis genommen. Danke.«
Plötzlich steht der Regent auf und sieht uns alle drei, nacheinander, finster an. Auf dem Infokanal war er mir nie so unsympathisch vorgekommen. Doch hier und jetzt verursacht seine Anwesenheit mir eine Gänsehaut.
»Kommen wir jetzt zur Urteilsverkündung.«
Er nimmt eine kleine Karte entgegen, welche der Prätor ihm, ergeben dreinblickend, reicht und überfliegt die Informationen darauf.
»Nova H1G-615, Jakob H1D-889 und Nume H1G-333. Ihr werdet hiermit zum Tode verurteilt. Die Strafe wird innerhalb der nächsten 12 Stunden vollzogen. Der hier abwesende Marzellus H1C-103 erhält dasselbe Strafmaß, welches umgehend nach seiner Erfassung zu vollziehen ist.«
Bevor einer von uns sich auch nur rühren kann, lässt der Regent sich wieder auf seinem Platz nieder und gibt einem der Soldaten, welche sich rechts und links neben dem Pult positioniert haben, ein Zeichen. Die Verhandlung ist beendet, sofern man es als solche bezeichnen kann. Die Soldaten sollen uns zurück in unsere kleine Zelle bringen.
Nume schnappt neben mir schockiert nach Luft. Überwältigt von diesem völlig unerwarteten Urteil laufen ihr die Tränen über das Gesicht. Jakob nimmt sie in den Arm und versucht sie zu beruhigen, doch auch er ist kreidebleich. Ich stehe einfach nur stocksteif da, kann nicht glauben, was hier gerade passiert. Es ist, als hätte man uns von einem Tag auf den anderen in eine Art Paralleluniversum geschickt. Das Leben, wie wir es kannten, ist vorbei. Hier gelten andere Regeln. Und keiner von uns ist in der Lage, diese zu begreifen.
Wie in Zeitlupe sehe ich die Soldaten auf uns zukommen. Sie wirken teilnahmslos, fast gleichgültig. Ob sie Derartiges öfter zu Gesicht bekommen? Kaum vorstellbar. Einer von ihnen packt mich am Arm und macht Anstalten, mich in Richtung Ausgang zu schieben. Ich erwache aus meiner Paralyse, reiße mich los und laufe die wenigen Schritte zurück zum Pult. Kurz bevor ich es erreiche, hat mich ein anderer Soldat bereits geschnappt und umfasst mich mit beiden Armen. Hysterisch wehre ich mich gegen den Griff. Aus meinem Schock ist Angst geworden und aus der Angst Wut.
»Das könnt ihr nicht machen! Wir sind Bewohner dieses HUBs, genau wie ihr! Wir haben nichts verbrochen. Ihr seid es, die bestraft werden sollten. Ihr seid es!«, brülle ich aus lauter Verzweiflung.
Der Soldat wirbelt mich grob herum und stößt mich vor sich her. Weinend und fluchend folge ich den anderen zum Ausgang. Ich drehe mich nicht noch einmal um. Dazu fehlt mir schlichtweg die Kraft. Den ganzen Rückweg über spricht niemand ein Wort. Nume weint still vor sich hin, während Jakob sie vorsichtig hinter den Soldaten herführt.
Wenig später haben wir uns alle wieder etwas beruhigt und sitzen still grübelnd auf dem Boden unseres Kerkers. Mein Kopf ist inzwischen völlig leer. Keinen vernünftigen Gedanken bringe ich mehr zusammen. Den anderen geht es sicher ebenso. Der Schock über das Erlebte sitzt einfach zu tief. Doch irgendetwas müssen wir unternehmen. Ich kann es einfach nicht hinnehmen, dass diese vier Menschen, die ich zuvor noch nie persönlich getroffen habe, über unser Leben, oder besser – über unseren Tod, entscheiden.
»Es tut mir leid, Jakob. Du hattest mich gewarnt und nun wissen deine Eltern nicht einmal, wo du bist und was mit dir passiert ist. Das ist meine Schuld. Verzeihst du mir?«
Schwerfällig rückt er ein Stückchen näher an mich heran und legt mir seinen Arm um die Schultern.
»Du trägst keine Schuld, Nova. So etwas konnte doch keiner ahnen! Keiner von uns. Mach dir keinen Kopf. Ich bin sicher, die sagen meinen Eltern, ich wäre zum Außeneinsatz befohlen worden. So was passiert, das weiß meine Familie.«
»Danke. Es ist lieb von dir, das zu sagen. Glaubst du, sie werden dasselbe über Nume sagen?«
»Vermutlich schon«, erwidert er mit einem Seitenblick auf meine Freundin.
Sie sitzt teilnahmslos da und scheint ihr Umfeld nicht mehr wirklich wahrzunehmen. Ich will gerade ein paar tröstende Worte aussprechen, als mir plötzlich poröser Betonstaub auf die Nase rieselt. Ein Erdbeben? So etwas hat es lange nicht gegeben. Beim letzten war ich vierzehn Jahre alt. Ich lege den Kopf in den Nacken und ein Schwall Staub landet in meinen Augen. Ich bin praktisch blind und wische mir entnervt über das Gesicht. Während ich blinzelnd fluche, höre ich Nume plötzlich scharf die Luft einziehen.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Hmm?«, schnaufe ich.
»Marzellus! Was tust du da?«
Marzellus? Ein letztes Mal rubbeln bringt mir wieder freie Sicht und ich starre Nume gespannt an, um den Grund für die merkwürdige Aussage zu erkennen, doch sie schaut wie gebannt nach oben an die Decke. Dieses Mal bin ich schlauer, rücke ein Stück zurück und lege meinen Kopf erst dann nach hinten. Was ich sehe, raubt mir fast den Verstand. Es ist tatsächlich Marzellus! Sein Kopf lugt aus dem geöffneten Lüftungsschacht über uns und schaut mich ernst an.
»Seid leise und hört mir gut zu.«
Es tut so gut, seine Stimme zu hören. Mir wird auf einmal klar, dass ich ein wenig sauer auf ihn war. Es ist unfair von mir, aber ich habe ihm unbewusst die Schuld an unserer Misere gegeben. Ich komme mir mies deswegen vor. Aber jetzt, wo er plötzlich auftaucht, in unserer dunkelsten Stunde, da merke ich erst, wie gern ich ihn eigentlich habe. Sofort erwachen meine Lebensgeister von Neuem und ich schmiede die wildesten Pläne in meinem Kopf.
»Wirst du uns hier rausholen?«
»Ja.«
Nume stößt einen quietschigen Laut aus und Jakob verzieht das Gesicht zu einem anerkennenden Grinsen.
»Passt auf, ihr müsst zu mir hier hoch kommen. Jakob, hilf den Mädchen hoch, für dich habe ich dann ein Seil.«
»Geht klar«, erwidert Jakob motiviert und formt mit seinen Händen einen Tritt.
»Du zuerst«, sage ich zu Nume und trete zurück.
Sie zögert kurz, packt Jakob dann aber bei den Schultern und stemmt ihren Fuß in seine Hände. Ein kräftiger Schwung und Marzellus kann nach ihr greifen. Es dauert einen Moment, doch dann ist sie in dem Loch über uns verschwunden und Marzellus‘ Kopf erscheint wieder.
»Jetzt du, Nova.«
Ich nicke und mache mich daran, Numes artistische Darbietung zu wiederholen. Als ich mit Jakob Auge in Auge dastehe und meinen Fuß positioniere, lächele ich ihn aufmunternd an.
»Alles klar?«
»Geht so. Hoch mit dir jetzt!«
Ich wende meine gesamte Konzentration auf, um nicht zur Seite wegzukippen, und greife zu, als die Hände unseres Retters näher schnellen.
»Hab dich«, bestätigt Marzellus und ich winde mich in den engen Schacht. Im Dunkeln kann ich Nume kaum ausmachen. Nur ihre Stimme verrät mir, wo sie sich befindet.
»Nova, wie hat er das gemacht? Wie lange ist er denn schon hier oben? Stunden oder Tage?«
»Keine Ahnung. Wir können später fragen. Jetzt tun wir einfach, was er sagt. Marzellus kennt sich hier aus.«
»Seid still ihr zwei. Zum Quatschen haben wir später Zeit. Wenn man hier oben nicht aufpasst, kann jeder mithören. Also Ruhe jetzt! Jakob? Ich lasse dir jetzt das Seil runter.«
Er fummelt an der Tasche, welche neben der Öffnung liegt herum, und befördert ein dünnes, aber stabil wirkendes Kletterseil zutage. Es muss aus dem Fitness-Bezirk stammen, ich erkenne es von unseren Trainings wieder.
»O. k., es ist gesichert, mein Körpergewicht sollte ausreichen. Komm hoch!«
Ich spüre, wie Marzellus enorme Anstrengung aufwenden muss, um das Seil nicht loszulassen, aber schließlich erreicht Jakob den Schacht und zieht sich, mehr oder weniger elegant, durch die Öffnung. Marzellus deutet ihm an, er solle ein wenig Abstand nehmen und setzt die silbrig glänzende Platte wieder ein. Sie hat unzählige kleine Löcher und verschließt die Luke passgenau. Ich habe zuvor nie auf die Lüftungsschächte geachtet und erst jetzt wird mir klar, dass sich ihr weitverzweigtes Netz durch den gesamten HUB ziehen muss. Ein riesiges, enges Labyrinth. Ich hoffe, Marzellus kennt sich wirklich so gut aus, wie er sagt.
»Passt auf, ich beschreibe euch jetzt genau, wo ihr hin müsst, und dann geht ihr vor. Ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Was hast du vor?«, frage ich aufgeregt.
»Ich habe euer Urteil mit angehört. Na ja, unser Urteil, um genau zu sein.«
Obwohl ich es in dem Halbdunkel nicht sehen kann, bin ich mir sicher, dass er grinst.
»Es gibt also nur zwei Möglichkeiten für uns. Auf die Vollstreckung warten oder fliehen.«
»Du willst uns nach oben bringen?« In Numes Stimme schwingen Angst und Vorfreude mit.
»Richtig. Wenn einer aussteigen will, dann jetzt. Wir müssen gut zusammenarbeiten, sonst wird das nichts.«
Kurz schweigen alle und überschlagen ihre eigenen Gefühle. Schließlich prescht Nume vor.
»Ich bin dabei. Sterben will ich nicht und vielleicht habe ich so eine Chance, Mailo zu finden.«
»Ich ebenfalls«, stimme ich zu.
»Ihr seid wahnsinnig, aber ob wir durch die Hand des Regenten oder auf der Flucht draufgehen, macht wohl kaum einen Unterschied. Ich komme mit. Was sollen wir tun, Marzellus?«
Erleichtert stelle ich fest, dass Jakob sich inzwischen voll und ganz auf die neue Situation eingestellt hat. Kurz habe ich befürchtet, er würde bleiben wollen.
»Gut. Ihr drei kriecht in diese Richtung. Wenn der Schacht das dritte Mal von einem anderen gekreuzt wird, biegt ihr rechts ab. Dann weiter, bis ihr auf einen ziemlich großen Luftauslass stoßt. Aber achtet darauf, keine Geräusche zu machen, und versucht, euer Gewicht nicht direkt auf die Auslässe zu verlagern. Das kann übel enden. Wir wollen ja nicht, dass ihr auf dem Frühstückstisch des Regenten landet.«
»Was sollen wir tun, wenn wir da sind?«, fragt Nume aufgeregt.
»Ihr hebt die Platte ab, seht ihr, so.«
Er macht es uns an der vorhandenen Lüftungsklappe vor, öffnet sie leise und schiebt sie dann ein Stück zurück.
»Macht sie nicht ganz auf. Nur so weit, dass ihr freie Sicht auf die Schleuse habt.«
»Welche Schleuse?«
»Ihr werdet sie erkennen, wenn ihr sie seht.«
»Du meinst die mit den gelben und schwarzen Streifen, richtig?«
Ich habe sie auf unserem Weg zur Urteilsverkündung bemerkt und gleich gespürt, dass es sich um keinen normalen Durchgang handeln kann.
»Genau die. Vor ihr sind Soldaten zur Bewachung eingeteilt. Ihr wartet, bis sie weg sind, und dann nichts wie raus aus dem Schacht, verstanden?«
»Wieso sollten sie weggehen?«, fragt Jakob zu Recht misstrauisch.
»Das lass mal meine Sorge sein.«
»Was tun wir, wenn wir unten sind? Wie geht die Schleuse auf?«
»Hiermit.«
Er hält mir eine kleine Karte hin. Ich befühle sie mit den Fingerspitzen und entdecke eine Art Gravur auf der einen Seite. Die andere ist glatt. Ich erkenne sie sofort wieder. Die Mitglieder des Kabinetts haben sie getragen.
»Woher hast du die?«
»Erklär ich später.«
»O. k., aber was ist mit dir? Du kommst doch mit?«
»Ich werde da sein, wenn die Luke offen ist. Keine Sorge.«
Ein paar Sekunden sagt keiner etwas. Die Aktion klingt halsbrecherisch, doch wir haben keine Wahl, und ich bin dankbar, dass wir Marzellus nun bei uns haben. Ich vertraue ihm.
»Dann los. Denkt daran, was ich gesagt habe. Keine Geräusche, nicht reden, vorsichtig bewegen, warten, bis die Soldaten weggehen.«
»Geht klar«, erwidern wir im Chor.
Dann drängelt er sich an mir vorbei und verschwindet leise in die entgegengesetzte Richtung.
Jakob seufzt und übernimmt die Vorhut. Ich folge ihm und achte penibel darauf, katzengleich und leise zu sein. Einfach ist es nicht. In mir keimt ungewollt Neugier auf. Ich weiß natürlich, es ist nicht sicher, dass wir es schaffen. Aber wenn doch? Tageslicht. Erde. Ungefilterte Luft. Was wird uns dort oben erwarten? An Strahlung denke ich überhaupt nicht. Jakob hat recht. Sie passt nicht ins Konzept. Wenn es andere Siedlungen gibt, muss man sich zwischen ihnen hin- und herbewegen können. Und Außeneinsätze machen ebenfalls keinen Sinn, wenn es an der Oberfläche nicht möglich ist, zu überleben. Ich will es einfach nur noch sehen. Ich WILL nach oben!
6. FLUCHT
»Tut sich was?«
»Nein.«
»Wie lange, meinst du, wird Marzellus brauchen?«
»Ich weiß es nicht, Nova. Sei still jetzt! Sonst hören sie uns noch!«
Jakob klingt wütend. Seine Nerven sind, genau wie meine, zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig werfe ich einen Blick auf die beiden Soldaten unter uns. Es wäre ein Leichtes für sie, uns zu bemerken. Also halte ich meine Klappe und warte weiter ab. Ungeduldig war ich schon immer, aber das hier stellt mich wirklich auf eine harte Probe. Außerdem brenne ich darauf, zu erfahren, was Marzellus vorhat. Wie will er die Soldaten weglocken? Sie haben sicher strenge Anweisungen. Einfach mal eben den Posten verlassen, ist wahrscheinlich nicht drin. Andererseits scheint Marzellus die Sache gut im Griff zu haben. Immerhin hat er bereits mehrere Tage unterhalb des Radars verbracht. Ich muss schmunzeln, wenn ich an das grimmige Gesicht des Regenten denke. Kaum zu glauben, dass ein 22-jähriger Techniker die Vorsitzenden des HUBs so an der Nase herumführen kann.
Vorsichtig robbe ich wieder näher an die Platte des Lüftungsschachts heran, um erneut einen Blick auf die Bewacher zu werfen, als plötzlich ein ohrenbetäubender Alarm losgeht. Ich sehe gerade noch, wie einer der Soldaten seinen Arm anhebt und etwas von einem kleinen Display, welches er am Handgelenk trägt, abliest, als beide Männer fluchtartig verschwinden. Das Tor ist frei.
»Ich gehe vor«, verkündet Jakob im Befehlston.
Er hebt die Lochplatte ab und steckt den Kopf aus der Luke. Kurz darauf zieht er ihn wieder zurück und nickt Nume und mir zu. Die Luft ist rein. Geschickt lässt er seinen Körper durch die Öffnung gleiten, hält kurz inne, offenbar um den Abstand zwischen seinen Füßen und dem Boden abzuschätzen, und lässt dann los. Mit einem kurzen „Tschuck“ landet mein bester Freund mitten im Gang vor der großen Schleuse. Einen Moment lang bleibt er still stehen und sondiert die Lage. Dann winkt er zu uns hoch und Nume und ich beginnen, ihm zu folgen. Der dröhnende Klang des Alarms sorgt dafür, dass wir nicht auf unsere Bewegungen achten müssen. Wir könnten auch laut Lieder singen, niemand würde es in diesem Chaos bemerken.
Eine Minute später stehen wir alle drei vor der massiven Schleuse und analysieren die Konsole am Rande der breiten Luke. Offenbar genügt die kleine Karte, die Marzellus mir gegeben hat, denn es ist kein Scanner oder Tastenfeld zu sehen. Vorsichtig schiebe ich die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz und warte gespannt. Hoffentlich passt diese Karte auch zur Schleuse. Wenn nicht, sitzen wir in der Falle.
Über dem Kartenschlitz leuchtet jetzt ein rotes Viereck auf und die Konsole gibt ein schrilles Geräusch von sich.
»Mist!«
»Versuch es andersherum. Dreh die Karte einfach um!«
Ich tue wie mir geheißen und das Viereck leuchtet grün auf. Hinter den großen Toren ertönen klappernde Geräusche und erschrocken weichen Nume, Jakob und ich ein Stück zurück. Das Klappern verändert sich zu einem dunklen Grollen und schließlich öffnen sich die breiten Schiebetüren der großen Luke im Schneckentempo.
Nervös blicke ich mich um. Wo bleibt Marzellus? Ohne ihn wissen wir nicht, wie es weitergeht. Doch der Gang hinter mir ist leer.
Die Schleuse ist nun beinahe ganz offen und wir treten näher, um einen respektvollen Blick hindurchzuwerfen. Doch dort herrscht völlige Dunkelheit. Dann, als die Luke kurz davor ist, einzurasten, schaltet sich die Deckenbeleuchtung hinter der Schleuse an. Erst ein Licht, dann zwei, dann immer mehr. Eine endlos erscheinende Lichtschlange beleuchtet einen weiteren, langen Gang, der ins Nichts zu führen scheint. Die Leuchten sind anders als die im HUB. Sie wirken künstlicher, irgendwie golden. Ich mag diese Art der Beleuchtung sofort.
»Kommt!«
»Jakob! Was ist mit Marzellus?«
»Keine Ahnung. Er wird schon auftauchen und nachkommen, wie er gesagt hat.«
»Aber wir haben den Schlüssel!«
Ich entferne die Karte aus der Konsole und fuchtele damit vor Jakobs Nase herum. Er will gerade etwas auf meinen Einwand erwidern, als hinter uns plötzlich die Hölle losbricht. Zuerst schallen merkwürdige Geräusche durch den Gang, aus dem wir gekommen sind. Dann höre ich Marzellus‘ Stimme.
»Macht sie zu! Macht die Schleuse zu!«
Jakob huscht durch die geöffnete Luke und beginnt damit, auf der anderen Seite den Schließmechanismus ausfindig zu machen. Nume folgt ihm, blickt sich dabei aber immer wieder mit offenem Mund um. Ich starre den langen Gang entlang und warte darauf, die Ursache des Lärms zu Gesicht zu bekommen. Es knallt immer wieder merkwürdig, als würde jemand mit einem Tablett gegen die Wände schlagen, nur irgendwie viel lauter. Das müssen Schüsse sein! Ich kenne derartige Waffen aus Lehrfilmen. Im HUB gibt es solche Dinge nicht. Zu groß ist die Gefahr, etwas könnte kaputt gehen oder die Menschen ließen sich hinreißen und kriminelle Energien entwickeln. Waffen sind Geschichte. Etwas aus der alten Zeit.
Dann schießt Marzellus um die Ecke und prallt mit der Schulter gegen die Wand. Er ist so schnell gerannt, dass er seinen Schwung nicht bremsen konnte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht brüllt er in meine Richtung.
»Ihr müsst sie schließen! Los jetzt!«
Schon ist er wieder in Fahrt und rennt wie ein Irrer auf uns zu. Ich drehe mich um, springe durch die Schleuse und sehe nach, wie weit Jakob ist. Glücklicherweise hat er inzwischen das richtige Bedienfeld gefunden und löst endlich den Schließmechanismus aus. Die riesigen Schiebetore beginnen sich ratternd und ächzend zu schließen.
Inzwischen sind Marzellus‘ Verfolger ebenfalls im Gang erschienen. Es sind zwei Soldaten. Ein Stück weiter hinter ihnen kann ich den Prätor erkennen. Er ruft seinen Männern Befehle zu, während diese ohne Unterlass auf den Flüchtling schießen. Immer wieder duckt sich Marzellus, schlägt Haken und weicht so nur knapp der einen oder anderen Kugel aus. Hinter ihm kann ich überall Einschusslöcher auf beiden Seiten des Ganges ausmachen. Mir bleibt fast das Herz stehen, so große Angst habe ich.
Die Schleuse ist inzwischen beinahe wieder zu. Ich schätze die Entfernung zwischen uns und Marzellus ab. Es sieht nicht gut für ihn aus. Die Kugeln prallen mit metallischem Klang von der Luke ab, während Marzellus Anstalten macht, sich auf den Boden zu werfen. Was hat er vor?
»Aus dem Weg!«
Wir treten weiter in den düsteren Gang hinein.
Marzellus zieht, bei voller Geschwindigkeit, die Knie an, lässt sich auf den Boden fallen und schlittert wie ein Geschoss durch den engen Spalt, der fast schon geschlossenen Luke.
»Alter!«, entfährt es Jakob.
Auch Nume und ich sind schwer beeindruckt. Während wir den auf dem Boden liegenden Marzellus anstarren, schließt sich die Schleuse endlich und die Schüsse hören auf.
»Alter! Das war der reine Wahnsinn, Marzellus!«
Jakob ist ehrlich beeindruckt und streckt Marzellus seine Hand entgegen, um ihm auf die Beine zu helfen. Japsend ignoriert er seinen Fan und stürzt sich auf die Konsole.
»Was hast du vor? Hat der Prätor nicht auch so eine Schlüsselkarte?«, frage ich neugierig.
Zwar sind auf der anderen Seite der Schleuse keine Geräusche mehr zu hören, dafür kann sie sich natürlich jeder Zeit wieder öffnen. Der Prätor muss seine Karte nur in die Konsole auf der anderen Seite schieben und wir sitzen auf dem Präsentierteller.
»Jetzt nicht mehr«, erwidert Marzellus ohne den Blick vom Panel zu nehmen. »Was glaubst du, woher ich diese Karte habe?«
»Aber irgendwer wird kommen und die Luke öffnen.«
»Ich weiß.«
»Was sollen wir tun?«
»Ich arbeite daran!«
»Oh, o. k.«
Er zückt einen kleinen Metallstab, hebelt die Abdeckung der Konsole damit ab und unzählige, ineinander verhedderte Kabel kommen zum Vorschein. Kurz überlegt Marzellus, doch dann greift er erneut in seine Tasche, befördert eine winzige Zange zutage. Ohne weiter Zeit zu verschwenden, knipst er einen rotleuchtenden Draht durch und tritt anschließend zufrieden einen Schritt zurück. Offenbar will er sein Werk betrachten.
Jakob und ich schauen uns überrascht an. Irgendwie war es mir nie aufgefallen, dass Marzellus diese Qualitäten hat. Er ist immer so ruhig und wirkt eher unscheinbar. Nie prahlt er oder drängt sich auf und nun DAS! Innerhalb von einer halben Stunde hat dieser Typ uns aus einer verschlossenen Zelle befreit, einen Hochsicherheitsschlüssel gestohlen, den wohl verrücktesten Stunt aller Zeiten hingelegt und nun auch noch erfolgreich den Schließmechanismus der Schleuse sabotiert. Alle Achtung, in diesem Kerl habe ich mich wirklich getäuscht. Er ist ganz offensichtlich ein Superheld!
»Gut. Das hätten wir. Nun müssen wir hier verschwinden. Das wird sie maximal eine Stunde aufhalten. Dann kommen sie uns hinterher. Also los jetzt!«
Marzellus läuft voraus und wir folgen ihm im Laufschritt. Je weiter wir dem Tunnel folgen, desto aufgeregter bin ich. Hinter uns erlöschen die Lichter, eines nach dem anderen, während vor uns immer neue angehen. Nach einiger Zeit merke ich, dass der Boden eine leichte Steigung aufweist. Nume ist schon völlig außer Atem. Sie treibt nicht so viel Sport wie Jakob, Marzellus und ich. Schließlich erreichen wir eine weitere Schleuse und halten prustend an.
»Wann habt ihr das letzte Mal etwas getrunken?«
»Gestern Abend. Bevor wir entführt wurden«, erwidere ich und versuche, meinen Puls wieder herunterzufahren.
Marzellus lässt seinen Rucksack von seinen Schultern gleiten und fischt zwei Einheiten Wasser heraus. Eine wirft er Jakob zu und die andere Nume. Sie drückt die Öffnung ein und trinkt in großen Schlucken. Dann gibt sie den Behälter weiter an mich.
»Trinkt alles aus. Oben werdet ihr schnell sehr viel Wasser verlieren. Wir müssen dafür sorgen, dass keiner von uns umkippt.«
»Woher weiß du so viel über das Feuerland?«
»Ich weiß gar nichts. Jedenfalls nicht mehr als ihr. Ich reime es mir eben so zusammen. Das eine ergibt das andere. Ihr habt doch ebenfalls den Schul-Bezirk besucht, oder etwa nicht? Ich jedenfalls habe dort gelernt, dass der Mensch zu ca. 70 % aus Wasser besteht. Bei großer Hitze verlieren wir es fast genauso schnell, wie wir es trinken, weil unser Körper seine Temperatur über das Schwitzen reguliert. Wir sind es gewohnt, jeden Tag bei exakt 24 °C Raumtemperatur zu leben, zu essen und zu schlafen. In den Bereichen, in denen schwer gearbeitet wird, sind es meist ca. 20 °C. Keiner von uns hat jemals eine höhere Temperatur erlebt. Meines Wissens, und bitte korrigiert mich, falls ich falsch liege, herrschen da oben angenehme 50 °C und aufwärts. Wir sollten uns also gut vorbereiten. Na ja, so weit eben möglich jedenfalls.«
»Was, wenn sie auch in Bezug auf die Außentemperatur gelogen haben? Vielleicht ist es viel wärmer oder viel kälter da oben.«
Jakob hat recht. Wir wissen nichts mit absoluter Sicherheit. Unser ganzes Leben hat sich inzwischen als einzige, große Lüge entpuppt.
»Dann sind wir am Arsch.«
»Pft …!«
»Na kommt Leute, gehen wir’s an. Nova? Gib mir die Karte und dann bleibt alle ein Stück zurück.«
Mit einer Hand nimmt er die Schlüsselkarte entgegen, während er mit der anderen sein Shirt hochschiebt und aus dem hinteren Bund seiner Hose eine Waffe zieht, wie sie die Soldaten hatten.
»Woher hast du die?«, fragt Nume aufgebracht.
»Was glaubst du denn?«
Damit ist die Diskussion beendet. Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich über diese Vorsorge. Vielleicht befinden sich hinter der nächsten Schleuse weitere Soldaten. Wir wären ihnen wehrlos ausgeliefert und alles wäre umsonst, hätte Marzellus nicht an diese Details gedacht. Inzwischen verstehe ich auch, wieso er uns allein zu der Schleuse geschickt hat. Er musste den Alarm auslösen, damit die Soldaten verschwinden und wir die Karte benutzen konnten. Vermutlich hat er auch die Waffe von diesem kleinen Umweg.
Während unser Anführer die Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz schiebt, treten wir anderen vorsichtig zur Seite und kauern uns neben die gewaltige Luke. Ebenso langsam wie unten im HUB öffnet sich die Schleuse und Marzellus hebt wachsam seine Waffe. Stück für Stück arbeitet er sich vor, bis er ganz durch die Öffnung hindurchgetreten ist. Ich kann nichts hören und ihn auch nicht mehr sehen. Sekunden vergehen, vielleicht sind es sogar Minuten. Es fühlt sich unerträglich lang an. Doch schließlich erscheint er wieder im Gang und gibt uns ein Zeichen, ihm zu folgen.
Auf der anderen Seite ist alles anders. Wir stehen in einer Art Halle. Sie hat eine Kuppel und ist so riesig, dass ich mir beinahe den Hals verrenke, als ich versuche, ihre Ausmaße abzuschätzen. Auf dem Boden befinden sich bunte Streifen und viele verschiedene Symbole. Ich erkenne keines von ihnen. Schnell bemerke ich die wabenförmige Architektur. An jeder der sechs Seiten befinden sich Nischen, in denen Fahrzeuge, Kisten, Geräte und lauter verrücktes Zeug steht. Im Zentrum des Gewölbes ist ein riesiger Aufzug. So groß, dass mindestens zwei von den Fahrzeugen und noch ein paar Menschen hineinpassen.
»Was zur Hölle …?«
Jakob klappt der Unterkiefer runter und Nume schlingt automatisch die Arme um ihren Oberkörper. Mir geht es ähnlich. Man kommt sich plötzlich winzig vor. Als wäre man ein kleiner Käfer oder eine Maus.
»Hier ist niemand. Seht euch um. Schaut, ob ihr etwas Nützliches findet. Ich schließe inzwischen die Schleuse kurz.«
Jeder von uns läuft eilig in eine andere Richtung.
In der ersten Nische entdecke ich Kleidung, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man es so nennen kann. Eine Reihe von Anzügen, Handschuhen und Schuhen sind an der Wand drapiert. Darüber befindet sich ein Schild mit der Aufschrift „SOLAR SUITS“. Schnell suche ich die entsprechenden Größen heraus und verlasse mich dabei auf mein Augenmaß. Die Beschaffenheit des Materials macht mich stutzig. So etwas habe ich noch nie in meinen Händen gehabt. Es fühlt sich merkwürdig an und alles ist schneeweiß. Ich entdecke noch weitere, nützliche Dinge wie große und kleine Taschen, Gürtel mit unzähligen Fächern daran. Jedes birgt seltsame Utensilien. Ich werfe alles, was mir sinnvoll erscheint, in die Taschen und eile zurück zu den anderen.
»Großartig!«
Marzellus scheint zufrieden mit meiner Beute zu sein.
»Schnell, zieht euch die Sachen an. Auch die Schuhe. Jakob! Was hast du gefunden?«
»Proviant, so etwas wie eine Landkarte und diese Dinger hier.«
Er hebt vier Manschetten hoch, an denen ein kleines Display befestigt ist.
»So ein Ding hatten die Soldaten auch am Handgelenk«, berichte ich.
»Pass auf, dass sie ausgeschaltet sind. Wir werden später schauen, ob sie zu etwas taugen.«
Nume stößt zu uns und schleift eine schwere Kiste hinter sich her. Ich frage mich, wie wir die transportieren sollen, bin aber trotzdem gespannt auf den Inhalt.
»Ich habe Zelte gefunden. Oder zumindest glaube ich, dass es welche sind. Und ein paar Geräte, um Wasser zu erhitzen und Licht zu machen. Seht selbst.«
Neugierig betrachten wir die Ausbeute. Marzellus fackelt nicht lang und rennt zu einem der großen Vehikel.
»Wir brauchen so ein Ding, wenn wir alles mitnehmen wollen. Kann einer von euch fahren?«
Auch wenn er mit dem Rücken zu uns steht, kann ich sein hämisches Grinsen praktisch sehen.
»Sehr witzig!«, kommentiert Jakob die unsinnige Frage.
Nume steht ratlos da und lässt die Schultern hängen. Ohne einen fahrbaren Untersatz kommen wir nicht weit.
»Ach, was soll’s, ich werd’s versuchen«, beschließt er und spricht eher zu sich selbst als zu uns.
Mit Schwung hievt er sich in die Fahrerkabine und bleibt eine Weile reglos sitzen. Sicher studiert er die Instrumente oder was sonst in so einem Teil sein muss.
»Die Anzüge sind so eng. Mit den Klamotten bekomme ich sie nicht an.«
Nume kämpft mit einem der SOLAR SUITS.
»Dann lass deine Klamotten weg!«, herrsche ich sie an.
»Ich ziehe mich doch nicht hier um! Vor den beiden!«
Sie meint die Jungs und ich zucke nur mit den Schultern, während ich beginne, mir meine Kleidung vom Körper zu schälen. Außer der Unterwäsche ziehe ich alles aus und stecke ein Bein in den Anzug. Er hüllt mich ein wie eine zweite Haut, ist aber gleichzeitig sehr angenehm zu tragen. Ich gewöhne mich schnell daran.
»Verdammt noch mal, also schön!«
Unter wilden Flüchen entledigt meine Freundin sich ebenfalls ihrer Kleidung und streift sich den weißen Anzug über. Auch Jakob beginnt mit der Prozedur. Ich bemerke, dass er Nume dabei verstohlen beobachtet. Ein Hauch von Eifersucht keimt in mir auf. Nur ganz kurz, dann habe ich es wieder unter Kontrolle. Was für ein Blödsinn. Nume und Jakob? Niemals! Innerlich schimpfe ich mit mir. Als wenn jetzt die Zeit für derlei Überlegungen wäre! Wir befinden uns auf der Flucht! Wieso denke ich über so etwas nach, anstatt mich nützlich zu machen?
Plötzlich ertönt ein dunkles Röhren und erschrocken wirbeln Nume, Jakob und ich herum. Mein bester Freund verliert das Gleichgewicht, weil seine Beine erst zur Hälfte im Anzug stecken, und fällt der Länge nach hin. Marzellus hat das Fahrzeug angelassen. In meinem ganzen Leben habe ich so ein Geräusch noch nicht gehört. Es klingt gefährlich laut und nach Abenteuer!
Ganz langsam bewegt es sich vorwärts und kommt bedrohlich nah an uns heran. Doch dann lenkt Marzellus es vorbei und fährt einen großen Kreis durch die Halle. Er übt. Wieder bin ich überwältigt von seinem technischen Verständnis. Ohne ihn sind wir so gut wie tot.
Ich helfe den anderen, die Sachen zusammenzupacken, und wir werfen sie auf die Ladefläche unseres neuen, fahrbaren Untersatzes.
»Das Ding nennt sich „Humvee“«, klärt Marzellus uns auf, »“High Mobility Multipurpose Wheeled Vehicle“.«
»Was?«
»“HMMWV“ oder eben „Humvee“. Steht hier so.«
Er fuchtelt mit einem dicken Buch aus abgewetztem Papier herum.
»Aha.«
Jakob ist offenbar wenig beeindruckt. Er knallt die hintere Tür zu und meldet, dass alle Sachen verstaut sind.
Während Marzellus sich seinerseits in einen der Anzüge zwängt, bestaune ich das Fahrzeug von außen. Es ist furchteinflößend groß und oben ist eine Art Waffe installiert. Viel größer als die von Marzellus. Über mehrere Streben im hinteren Teil ist eine Plane gespannt worden. Es passen sicher acht oder neun Personen auf die Ladefläche.
»Dann sehe ich mir mal den Lift an.«
Marzellus springt aus dem „Humvee“ und steuert auf den gewaltigen Aufzug zu, doch bevor er ihn erreicht, dröhnt plötzlich eine laute Stimme durch die Halle.
»Ich warne euch!«
Beinahe panisch wende ich mich zu allen Seiten und versuche, die Quelle ausfindig zu machen. Doch ich kann niemanden entdecken. Marzellus hat seinen Sprint unterbrochen und hockt in Habachtstellung auf dem Boden vor dem Lift. Wieder erklingt die Stimme und augenblicklich wird mir klar, dass sie aus den unzähligen Lautsprechern kommt, die im gesamten Gewölbe gut sichtbar installiert sind. Es ist die Stimme des Regenten. Offenbar hat man ihn inzwischen hinzugezogen. Ich frage mich, wo er sich befindet. In seinen Räumlichkeiten? Vor der ersten Schleuse, unten im HUB oder gleich hier, vor der Tür sozusagen?
»Verlasst nicht die sicheren Bereiche des HUBs. Ich meine es ernst! Ihr werdet es bitter bereuen. Öffnet die Schleusen und wir werden eine geeignete Lösung finden. Niemandem soll etwas passieren.«
»Ja, sicher!«, brummt Jakob, »außer, dass wir wahrscheinlich erschossen oder vergiftet werden!«
Ich nicke zustimmend.
»Marzellus!«, rufe ich, »mach weiter! Schnell!«
Er ist schon wieder auf den Beinen und eilt zur Steuerkonsole des Aufzugs. Hoffentlich ist auch dieses technische Monstrum kein Problem für ihn.
»Öffnet die Schleusen. Sofort!«
Wie erstarrt stehen Nume, Jakob und ich da. Die Stimme wirkt wie ein lautes Rumpeln durch die alten Lautsprecher. Obwohl der Regent uns eine friedliche Lösung verspricht, kann ich seine Wut durchklingen hören. Wenn wir die Tore öffnen, sind wir keine dreißig Sekunden später tot.
»Hab’s!«
Marzellus kommt zurück, während sich hinter ihm die schweren Tore des Lifts langsam öffnen.
»Das Ding ist riesig, aber ich glaube, ich weiß, wie wir nach oben kommen.«
Er schwingt sich zurück hinter das Steuer und lässt den Motor erneut an. Obwohl auf allen Seiten genügend Platz ist, lenkt er den Humvee langsam und äußerst vorsichtig in den riesigen Schacht des Aufzugs. Dann hechtet er zu der verschmutzten Steuereinheit im Inneren des Fahrstuhls und betätigt ein paar Schalter. Die Tore schließen sich wieder und dann passiert erst einmal gar nichts. Nachdenklich lässt er seinen Blick über das Relais schweifen und drückt weitere Tasten. Die Stimme war lange still und mir schwant Übles. Doch dann knistert es laut und der Regent gibt sich plötzlich keine Mühe mehr, freundlich zu klingen.
»Wenn ihr nicht augenblicklich mit diesem Mist aufhört, werden eure Eltern dafür zahlen! Ich meine es ernst. Öffnet die Schleusen oder es wird Schlimmes mit ihnen geschehen!«
Jakob sitzt kerzengerade neben mir im Humvee und scheint den Atem anzuhalten. Der Regent hat voll ins Schwarze getroffen. Ich fühle mich hilflos und weiß nicht, wie ich mich Jakob und Nume gegenüber verhalten soll. Meine Eltern sind bereits gestorben, ich habe, sozusagen, nichts zu verlieren.
»Ist schon gut«, sagt Jakob, als er meinen unsicheren Blick bemerkt, »ich weiß, dass wir keine Wahl haben. Wenn wir aufmachen, werden sie uns umbringen. Wir müssen gehen.«
Ich nicke mitfühlend und ziehe Nume an mich. Dieser verfluchte Kieran! Er hat uns in diese Lage gebracht. Sollte ich diese Sache überleben, komme ich zurück und mache ihn fertig! Nume hat zu weinen begonnen und ich fühle mich schrecklich deswegen. Schon die ganze Zeit fühle ich mich irgendwie schuldig, dabei ist der verdammte Regent schuld. Er und seine Helfer haben uns in diese Situation gebracht. Es ist zum Verrücktwerden!
Mit einem heftigen Ruck setzt sich der Fahrstuhl in Bewegung. Ich bekomme eine Gänsehaut. Wie lange wird es dauern, bis wir oben sind? Was wird uns dort erwarten? Nervös spiele ich an den Taschen meines Anzugs herum, während die Stimme des Regenten allmählich den Geräuschen des emporfahrenden Aufzugs weicht.
»… werdet es nicht schaffen … lieber gleich aufgeben … denkt an eure …«
Dann höre ich nur noch das Rattern der Kabine und schließe für einen Moment die Augen. Marzellus hat seinen Platz hinter dem Steuer wieder eingenommen. In wenigen Minuten werden wir zum allerersten Mal die Erdoberfläche sehen. Was jetzt kommt, ist entweder fabelhaft oder tödlich. Ich weiß nicht, was mir mehr Angst einjagt.
7. AUFWÄRTS
Der Fahrstuhl ist nur noch etwa fünfzig Meter von einer erschreckenderweise verschlossenen Kuppel entfernt. Wenn sie sich nicht gleich öffnet, werden wir dagegenprallen, um anschließend den langen Schacht wieder herunterzustürzen. Wir sind alle ausgestiegen, nur Nume sitzt noch im Fahrzeug. Sie kann nicht mehr hinsehen.
»Marzellus? Tu doch was!«, brüllt Nume angsterfüllt.
»Ich weiß nicht, was! Ich glaube nicht, dass es dafür einen Schalter gibt. Das Teil müsste sich von alleine öffnen, wenn der Lift eine gewisse Höhe überschreitet. Alles andere wäre völliger Wahnsinn!«
»Aber es öffnet sich nicht!«
»Ach was?«
Marzellus überprüft fieberhaft die Steuereinheit des Fahrstuhls, kommt aber augenscheinlich zu keinem anderen Ergebnis. Mir wird übel. Gerade als ich befürchte, mich direkt in Jakobs Schoß zu übergeben, dringt ein lautes Rumpeln an mein Ohr. Den Bruchteil einer Sekunde später trifft mich ein gleißend heller Lichtstrahl. Sonne. Echtes, warmes Sonnenlicht. Aus der Wärme wird schnell Hitze, als sich die Kuppel weiter öffnet.
Ich spüre, wie Jakob an meiner Schulter rüttelt, doch seine Stimme ist nur ein dumpfes Säuseln. Ich bin so vertieft in das Szenario, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich die Sonne auf meinem Gesicht.
»Nova! Steig ein und sieh nicht direkt hin, um Gottes willen! Komm jetzt. Wir sind gleich oben!«
Schlagartig wird mir klar, was er von mir erwartet. Wir wissen nicht, wer oder was dort oben auf uns lauert. Noch mehr Soldaten? Strahlung? Ein Sturm? Es könnte alles sein. Unsere Haut ist die direkte Sonneneinstrahlung nicht gewöhnt. Darum will er, dass ich nicht direkt in das wunderbare Licht schaue. Dieses herrliche, wunderschöne Licht.
Schnell folge ich seinem Rat und springe zurück in den Humvee. Marzellus lässt bereits den Motor an und wir warten gebannt darauf, dass der Fahrstuhl zum Stehen kommt. Der riesige Drahtkorb schiebt sich langsam und gemächlich aus der Erde empor ans Tageslicht. Nun ist es fast so weit, dass ich über den Rand der großen Kuppel, die sich inzwischen vollständig geöffnet hat, blicken kann. Gleich. Noch ein kleines Stück.
»Verdammte Scheiße!«, entfährt es Jakob und auch Nume zieht scharf die Luft ein.
Vor uns kommt Zentimeter für Zentimeter eine Welt zum Vorschein, wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können. Orange-gelb-grauer Boden so weit das Auge reicht. Hier und da ein paar verkrüppelte Sträucher, die wie knochige Hände aus der Erde greifen. Ihre Finger vorwurfsvoll gen Himmel gerichtet. Der Himmel. Ich kann den Himmel sehen! Er ist beige und gelb, irgendwie sandfarben, leuchtend. Wie ein Gemälde. Die Hitze überrollt uns wie eine Welle aus glühender Watte. Jakob wühlt in einer der Taschen und verteilt Handschuhe und Brillen mit einem elastischen Band daran. Ich ziehe mir meine über den Kopf und bin fast ein wenig traurig darüber, wie sich das Bild vor meinen Augen verändert. Die Brille lässt die Umgebung kühler wirken. Zwar verbessert sie die Sicht ungemein, nimmt dem Ganzen aber auch das Majestätische. Dafür kann ich nun genauer erkennen, wie unsere direkte Umwelt aussieht. Ich verschaffe mir einen Überblick, während der Aufzug endlich zum Stillstand kommt und Marzellus den Humvee die kurze Rampe hinabsteuert. Danach steigt er aus und läuft zurück zum Aufzug, um die Kuppel wieder zu schließen.
»Ich habe ein wenig an der Steuerung herummanipuliert«, verkündet er stolz, als er den Humvee wieder erreicht, »so schnell kommen die nicht hoch!«
Wir sind viel zu perplex, um ihm richtig zuzuhören. Die neuen Eindrücke erschlagen uns regelrecht.
»Nova, schau dir das an!« Nume deutet auf den Horizont und es dauert etwas, bis ich das Bild zuordnen kann.
Im Schul-Bezirk hat man uns stets beigebracht, dass die Sonne ein runder Ball ist, welcher strahlend am Himmel steht und sein Licht auf die Erde wirft. Doch die alten Bilder, Filme und Erzählungen haben eine andere Sonne gemeint. Diese hier ist kein Ball mehr. Sie ist eine gewaltige Kugel, welche ihr gleißendes Licht auf die kleine Erde ergießt und kein Erbarmen kennt. Das Farbenspiel ist unbeschreiblich. Irgendwie scheint alles denselben Ton zu haben und doch gibt es so viele Facetten. Ich spüre bereits, wie mir die Hitze zu schaffen macht, und versuche ruhig und gleichmäßig zu atmen.
»Wickelt euch die hier um die Köpfe«, befiehlt Marzellus und tippt mit der Hand auf eine der Taschen an seinen Gürtel.
Ich schaue in die betreffende Tasche meines Gürtels und befördere ein dünnes, weißes Tuch ans Tageslicht. Schnell schlinge ich es mir um den Kopf und stelle erfreut fest, dass es ein wenig hilft. Ich setze meine Beobachtungen fort und sehe mich neugierig um. Das Areal ist nicht besonders groß, aber man kann erkennen, dass es hier vor langer Zeit eine Art Schutzwall gegeben haben muss. Verfallene Verteidigungsanlagen ragen in regelmäßigen Abständen aus dem Sand und verraten mir, dass in grauer Vorzeit nicht jeder in den HUB 1 hineingelassen wurde.
»Findet ihr es nicht auch seltsam, dass hier niemand ist?«
Jakob hat recht. Ich habe Soldaten erwartet, doch es herrscht Stille. Als hätte seine Frage einen unsichtbaren Auslöser betätigt, hallen plötzlich Schüsse durch die öde Landschaft. Schnell ducken wir uns hinter den Humvee und Marzellus zerrt die Waffe aus dem Gürtel seines Anzuges.
»Fuck! Könnt ihr sehen, wo die sind?«
Ich lege mich flach auf den Boden und versuche es herauszufinden. Doch es ist nicht einfach. Ich kenne mich hier nicht aus und das merkwürdige Licht macht mir zu schaffen. Wieder fallen Schüsse und ihr Mündungsfeuer dient mir sogleich als Anhaltspunkt.
»Links von uns. Warte, ich versuche, mehr zu erkennen.«
»Nimm das hier«, ruft Jakob mir zu und hält mir ein Fernglas hin, »lag im Wagen.«
Schnell schnappe ich mir das Teil und wundere mich kurz, wie schwer es in meiner Hand liegt. Ich führe es an meine Brille und sehe sofort alles verschwommen. Mit dem Zeigefinger suche ich nach einer Möglichkeit, das Bild zu justieren, und werde schnell fündig. Jetzt ist alles schärfer, aber ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, um die Männer wiederzufinden. Durch die plötzliche Nähe ist jede noch so kleine Bewegung ein Schritt in die falsche Richtung. Schließlich habe ich sie wieder im Suchfeld und bin fast schon erleichtert.
»Ich glaube, es sind nur zwei!«
»Wir müssen näher ran, sonst kann ich nicht richtig zielen«, verkündet Marzellus.
»Was ist mit dem Ding da oben?«
Jakobs Frage ist nicht unberechtigt. Ich hatte die Waffe auf dem Humvee schon in der großen Halle entdeckt. Es wäre eine Möglichkeit.
»Und wer bitte soll sich als lebendige Zielscheibe da rauf begeben? Bist du irre?«
Nume schüttelt fassungslos den Kopf. Fieberhaft denke ich nach und ein verrückter Plan nimmt in meinem Kopf Formen an.
»Ich lenke sie ab. Wenn sie auf mich feuern, kletterst du rauf und machst sie fertig, Marzellus.«
Einen kurzen Moment lang bereue ich meine harten Worte. Einer von ihnen könnte Mailo sein. Andererseits waren es Soldaten, die uns in die Zelle gebracht haben. Zumindest glaube ich das inzwischen. Sie wollen unseren Tod und ich bin nicht bereit, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Obwohl Marzellus heftig den Kopf schüttelt, bereite ich mich innerlich auf meinen Sprint vor.
»Auf keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich! Hier gibt es fast keine richtige Deckung. Sie würden dich treffen!«
»Fällt dir was Besseres ein?«
Er schüttelt wieder den Kopf, wirkt aber nicht wirklich überzeugt von meiner Idee. Also ignoriere ich seinen Einwand und meine aufkeimende Angst, werfe Jakob das Fernglas zu und renne einfach los. Keine drei Sekunden später spüre ich hinter mir die Kugeln im Boden einschlagen. Das Knistern der aufpeitschenden Sandfontänen an meinen Beinen verrät mir, dass sie mich nur knapp verfehlen. Nach fünfzehn Metern hechte ich hinter eine kleine Gruppe von Felsen und presse mich mit dem Rücken dagegen. Ein Blick zum Humvee verrät mir, dass Marzellus noch nicht so weit ist. Ich muss also weiter. Der kurze Sprint hat mich bereits ein wenig schwindelig gemacht und ich kann nur hoffen, dass ich einen weiteren schaffe. Ich rappele mich auf und renne weiter. Dieses Mal ist der Abstand zum nächsten, geschützten Punkt größer. Ich sende Stoßgebete gen Himmel und lege mich wie verrückt ins Zeug. Ein Gesteinsbrocken hinter mir wird getroffen und splittert in tausend Teile. Ich achte nicht darauf, das Adrenalin pumpt durch meine Adern. Endlich höre ich die großkalibrige Waffe des Humvees eine Salve nach der anderen losschmettern. Mit letzter Kraft werfe ich mich hinter eine halb geöffnete, verstaubte Kiste. Durch meine Geschwindigkeit habe ich zu viel Schwung und verfehle den sicheren Schatten ein wenig. Schnell ziehe ich die Beine an und robbe rückwärts gegen das zurückgelassene Behältnis. Als ich versuche, mich abzustützen, um das letzte Stück zu schaffen, wird mir plötzlich schwarz vor Augen. Das Rattern des Geschützes wird leiser und ich sinke matt zu Boden. Keine Chance! Ich schaffe es nicht, meinen Kreislauf wieder in den Griff zu bekommen, und verliere das Bewusstsein.
»Nova? Hey, hörst du mich? Komm schon. Sieh mich an!«
Dumpf klingen Jakobs Worte an mein Ohr. Wie aus einer anderen Welt oder aus einem Traum. Ich will nicht aufwachen. Es tut gut, einfach nur zu liegen.
»Nova!«
»Jaaaaaa …«, quäle ich mir das Wort über die Lippen.
Unter größter Anstrengung versuche ich die Augen zu öffnen und schließe sie sofort wieder, als das Licht mir beinahe den Schädel zerplatzen lässt.
»Schnell, gib mir ihre Brille und etwas Wasser!«
Jemand fummelt an meinem Kopf herum und dann spüre ich das herrliche Nass auf meinen Lippen. Gierig trinke ich in großen Schlucken. Es fühlt sich an wie eine Droge. Dann bin ich bereit, einen zweiten Versuch zu wagen, öffne die Augen und schaue direkt in Jakobs besorgtes Gesicht.
»Habt ihr sie erwischt?«, frage ich mit belegter Stimme.
»Ja. Sie sind … tot. Waren wirklich nur zwei. Alle Achtung, Nova. Das war ein astreiner Sprint, den du da hingelegt hast!«
»Danke«, krächze ich benommen.
Mein Schädel fühlt sich an, als würde er in zwei Hälften bersten. Ich kann nur hoffen, dass dies mehr mit der Aufregung und der fehlenden Nahrung zu tun hat, als mit der brutalen Hitze. Falls nicht, werden wir nicht weit kommen. Allerdings sehen die anderen recht fit aus und somit verwerfe ich meine Sorge erst einmal.
»Meinst du, du kannst aufstehen?«
»Ich will es versuchen.«
Mühsam stemme ich mich hoch und schaffe es, mich vornüber auf meine Knie fallen zu lassen. Jakob hilft mir auf. Langsam geht es wieder, aber ich kann spüren, dass mein Körper eine Stinkwut auf mich hat.
»Wie geht’s jetzt weiter?«, frage ich matt.
»Wir müssen uns ein Ziel suchen. Wenn wir einfach drauflosfahren, haben sie uns in weniger als einem halben Tag eingeholt. Wir kennen uns nicht aus, die sicher schon.«
Marzellus hat recht, wie immer …
»Die Karte!«, quietscht Nume.
»Richtig! Die hatte ich ganz vergessen! Ich hole sie.«
Jakob läuft zum Humvee vor, während die anderen mich in ihre Mitte nehmen und ihm langsam folgen. Meine Knie zittern, aber ich schlage mich tapfer.
Wieder am Wagen faltet Jakob die Karte auseinander und wir lassen unsere Blicke darüberschweifen. Zunächst sagt das Geflecht aus Linien und farbigen Flächen mir gar nichts, doch dann findet Marzellus eine Legende am unteren Rand.
Es gibt offenbar unwegsame und gut befahrbare Areale. Außerdem sind die alten Städte gekennzeichnet. Dorthin zu fahren, wäre sicher keine gute Idee. Hindernisse könnten die Durchfahrt erschweren.
»Was bedeuten diese Nummern?«, frage ich Marzellus, der den besten Blick auf die Legende hat.
»Einen Moment … das sind … Scheiße! Das sind HUBs!«
Erschüttert weichen wir beinahe gleichzeitig ein Stück zurück, so als wäre die Karte giftig.
»So viele? Das ist nicht möglich. Bist du dir sicher?«
»Ja, es steht doch hier. Sieh selbst!«
»Tatsächlich! Ich fasse es nicht! Das müssen ja mindestens fünf oder sechs hier in der Umgebung sein.«
»Seht doch. Dort ist HUB 6, hier HUB 11 und dort haben wir auch die Nummer 23. Von denen war doch die Rede, oder Marzellus?«
»Jep.«
Plötzlich fällt mir noch etwas auf.
»Wieso haben die Nummern unterschiedliche Farben? Seht ihr? HUB 6 ist blau, während 11 und 23 gelb sind.«
»Keine Ahnung. Das steht hier nicht«, erwidert Marzellus ratlos.
Ich suche nach HUB 1 und werde schnell fündig.
»Guckt mal. Hier befinden wir uns. Nun wissen wir zumindest schon mal, wo genau wir sind.«
»Und das wir zur gelben Kategorie gehören, was auch immer das bedeutet«, stellt Jakob fest.
»Ich finde, wir sollten uns allmählich auf den Weg machen. Je länger wir hier rumstehen, desto eher kommen die da unten raus!«, unterbricht Nume unsere Recherchen.
Sie hat natürlich recht. Nur weiß leider niemand, in welche Richtung wir fahren sollen.
»Gut. Die Frage lautet also: Wollen wir einen HUB besuchen, der so wie unserer ist, oder soll es lieber ein blauer sein? In jedem Fall würde ich einen von den drei HUBs nehmen, über die die beiden Männer gesprochen haben. Von denen wissen wir wenigstens, dass sie bewohnt sind.«
Fragend blickt Marzellus in die Runde. Schließlich gebe ich meine persönliche Meinung preis.
»Ich würde sagen, gelb kennen wir schon. Wir können wohl davon ausgehen, dass ein gelb markierter HUB unserem ähnlich ist. Also schadet es sicher nicht, wenn wir uns die andere Version genauer anschauen. Vielleicht finden wir so auch mehr über das ganze System heraus? Ich stimme für Blau.«
»Ich bin ihrer Meinung«, pflichtet Jakob mir bei.
Auch Marzellus und Nume nicken zustimmend und so wählen wir HUB 6 als unser erstes Ziel aus.
Noch immer kann ich es kaum fassen. Wir werden das Feuerland durchqueren und höchstwahrscheinlich auf andere Menschen treffen. Ich kann nur hoffen, dass uns diese freundlicher gesinnt sein werden, als es unsere eigenen Leute waren!
»Wartet«, sagt Marzellus, »ich will noch kurz etwas testen.«
Er wühlt in einer der Taschen und befördert ein kleines Gerät ans Tageslicht.
»Was ist das?«, fragt Nume misstrauisch.
»Ein Strahlenmessgerät. Ich will sehen, was es mit der angedrohten Strahlung auf sich hat.«
Sein Vorhaben bereitet mir Unbehagen, ist aber dennoch sinnvoll. Eine Weile hantiert er mit dem Ding herum, um dann damit hin und her zu laufen.
»Nichts, Leute. Also nicht „nichts“, aber alles im normalen Bereich. Zumindest, wenn man der Anzeige hier trauen darf.«
Erleichtert blicken wir uns an. Eigentlich hatte niemand erwartet, dass die Erdoberfläche verstrahlt sein würde, denn dann hätte unsere ganze Theorie hinten und vorne nicht gepasst. Aber ein wenig Angst hatte ich schon. Ob seine Messung nun hundertprozentig korrekt ist oder nicht, ist eigentlich egal. Sie gibt uns ein gutes Gefühl.
Nachdem wir alles wieder im Humvee verstaut und unsere Plätze eingenommen haben, startet Marzellus den Motor. Sehnsüchtig starre ich aus dem Fenster und bewundere die Landschaft. Diese Weite! In allen Richtungen ist der Horizont zu sehen. Die Welt erscheint mir unendlich groß. Doch die Hitze macht mir weiterhin zu schaffen. Gnadenlos brennt die Sonne auf uns herab. Wie sie wohl früher ausgesehen haben muss?
Im Schul-Bezirk hat man uns von unseren Urvätern erzählt. Von der Krise, in die die Menschheit damals gestürzt ist. Zuerst die Wut, die Streitigkeiten, der Krieg. Dann folgte die Panik. Lebensraum war plötzlich hart umkämpft. Jeder wollte für die Zukunft gewappnet sein und war stets sich selbst der Nächste.
Die Umweltverschmutzung hatte längst ihren Höhepunkt erreicht und den Mächtigen war Geld wichtiger als ihr Heimatplanet. Die Erde wurde gnadenlos ausgebeutet und verseucht. Ohne Rücksicht auf die Natur bahnte der Mensch sich seinen Weg zu Reichtum und Konsumvielfalt. Jahrzehnte lang hatte man angenommen, dass die Menschheit selbst am Untergang des Planeten schuld sein würde. Doch am Ende war es die Sonne, die sich drohend gegen die Erde richtete.
Ich habe nie genau verstanden, was eigentlich im Inneren der Sonne geschehen ist und warum sie so gefährlich für uns Menschen wurde. Eigentlich sind diese Informationen auch nicht wichtig, denn man könnte es ohnehin nicht mehr aufhalten. Damals haben sie mir und den anderen Kindern erklärt, dass Sterne auch sterben können. Sie enden dann entweder als Weißer Zwerg, als Neutronenstern oder als Schwarzes Loch. Doch bevor es so weit ist, werden sie zu einem roten Riesen. Man war in der alten Welt immer davon ausgegangen, dass unsere Sonne noch weit von diesem Stadium entfernt ist. Immerhin hat so eine Sonne eine Lebenserwartung von rund 10 Milliarden Jahren! Doch dann ging alles plötzlich viel schneller. Wissenschaftler waren sich uneins, Regierungen gerieten aneinander, und während die Temperatur auf der Erde Grad um Grad stieg, zerbrach die Menschheit an der unerwarteten Herausforderung. Die Sonne, welche immer DER Garant für Leben auf unserem wunderschönen Planeten war, wurde zu unserem Untergang. Und irgendwann, zwischen den ersten Erkenntnissen und der großen Panik, hat jemand unseren HUB erschaffen.
Der Humvee setzt sich in Bewegung und die unregelmäßigen Schaukelbewegungen lullen mich gnädig ein. Der Zusammenbruch hängt mir noch nach und meine Augen fallen immer weiter zu. Bevor ich etwas dagegen tun kann, bin ich eingeschlafen.
Lust auf mehr?
Offizielle Website der NACHTSONNE Chroniken:
www.NACHTSONNE-Chroniken.de
Leseprobe: Jonah
leseprobe Jonah
Am späten Nachmittag des folgenden Tages wird das Ergebnis meiner Nacht-und-Nebel-Aktion zunichtegemacht, als Jonah urplötzlich vor meiner Tür steht. Er trägt ein Shirt mit dem Emblem einer Band darauf, von welchem ich glaube, es auf den alten Platten meines Dads schon mal gesehen zu haben.
»Lust, was zu unternehmen?«, fragt er mich ohne Umschweife und ohne auch nur Hallo zu sagen.
Ich kann nicht anders, als ihn fassungslos anzustarren.
»Ist das ein Nein?«, hakt er nach und grinst wieder so schief.
»Ich …«, setze ich an, weiß aber beim besten Willen nicht, was ich darauf erwidern soll. Meint er es ernst? Wir haben vor ein paar Tagen zwei Worte miteinander gewechselt und nun sind wir beste Freunde? Und wo kommt er jetzt auf einmal her? Wo war er die ganze Zeit?
»Wir können auch einfach weiter hier stehen und uns anstarren«, bietet er an. »Allerdings hatte ich eher an etwas, das ein wenig mehr Interaktion beinhaltet, gedacht. Ich habe gesehen, dass du ein Board hast«, sagt er, ohne meinen unverändert verwirrten Gesichtsausdruck zu beachten, und deutet auf mein Longboard, das neben der Tür an der Hauswand lehnt. »Wir könnten ins Dorf fahren und irgendwo was essen oder einfach nur rumfahren. Worauf du Lust hast.«
Er blickt mich fragend an, während ich mich räuspere und nach den richtigen Worten suche.
»Jonah«, beginne ich zaghaft.
»Super!«, fällt er mir ins Wort. »Du kennst meinen Namen noch. Das ist ein Anfang.«
»Jonah«, wiederhole ich und hebe eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, »wir kennen uns kaum. Um ehrlich zu sein, ich halte das für keine gute Idee …«
»Nur eine Stunde, oder zwei«, wirft er ein. »Wenn es dir keinen Spaß macht, darfst du mich ab morgen ignorieren. Versprochen.«
Ich grunze leise auf.
»Dich zu ignorieren, fällt leicht. Du bist ja nie da.«
Er hebt eine Augenbraue.
»Du hast nach mir Ausschau gehalten?« Er wirkt erfreut.
»Natürlich nicht«, wehre ich ab und spüre die Röte schon wieder in meinem Gesicht. »Ich wohne gleich nebenan. Da kriegt man eben mit, wer kommt und geht oder in deinem Fall«, sage ich mit zusammengekniffenen Augen, »wer nicht kommt und geht.«
Er zuckt mit den Achseln. »Hatte zu tun.«
»Und deine Großeltern?«, stochere ich weiter.
»Die sind …«, er hält kurz inne und wirkt plötzlich unsicher auf mich. Doch dann erhellt sich seine Miene und er verkündet: »Die sind auf Kreuzfahrt. In der Karibik. Oder irgendwo anders, wo man Drinks mit Schirmchen serviert. Hab’s vergessen.«
Ich runzele die Stirn. Entweder ist gerade Seniorenreisezeit und neben meiner Gran haben noch andere Pächter das Weite gesucht oder der Kerl lügt wie gedruckt. Auf keinen Fall werde ich mit ihm irgendwo hingehen. Vermutlich hält er die K.-o.-Tropfen schon bereit.
»Du bist nicht der Enkel der Carsons, nicht wahr«, platze ich heraus und beiße mir sofort auf die Lippen. Wenn ich recht habe, dann bekommt er jetzt vielleicht Panik und fesselt mich gleich hier an einen Stuhl.
Jedoch wirkt Jonah keineswegs panisch. Er sieht eher belustigt aus. Eine Hand wandert hinter seinen Rücken und ich halte erschrocken die Luft an. Irgendwie erwarte ich, dass er eine 9 mm zieht, doch er lacht bloß kopfschüttelnd und bringt ein abgegriffenes Portemonnaie zum Vorschein.
»Hier«, sagt er, nachdem er eine Weile darin herumgekramt hat, und hält mir seinen Ausweis unter die Nase.
Neben einem Foto, auf dem er ziemlich ernst und viel erwachsener als in diesem Moment auf mich wirkt, steht dort der Name »Jonah Alan Carson«. Ich schnappe nach der kleinen Karte, doch er zieht sie weg und steckt sie wieder in das Fach neben die Geldscheine. Dafür holt er nun ein zerknicktes Foto hervor. Er hält es hoch und erklärt: »Das bin ich, das sind meine Eltern, das sind meine Großeltern und aufgenommen wurde das Bild letztes Jahr drüben auf der Terrasse. Zufrieden?«, fragt er ungeduldig, jedoch nicht unfreundlich.
Ich begutachte die Aufnahme genau. Es stimmt. Ich erkenne das Haus der Carsons im Hintergrund und ihn natürlich auch. Den Rest der Familie kenne ich nicht, aber was macht das schon. Mehr Beweise kann ich wohl kaum verlangen.
»Schön«, sage ich schulterzuckend. »Dann bist du eben der Enkel der Carsons. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich einfach so mit dir um die Häuser ziehe. Du kannst doch nicht einfach hier aufkreuzen und erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse, nur weil dir langweilig ist.«
Zufrieden über meine klare Ansage lehne ich mich gegen den Türrahmen und verschränke die Arme vor der Brust. Im selben Moment frage ich mich, wieso ich eigentlich so widerspenstig bin.
Jonah verlagert sein Gewicht ein wenig und späht an mir vorbei auf die Veranda. Bis zu seinem Auftauchen hatte ich dort gesessen und auf dem kleinen Tisch liegen noch eine Zeitschrift und ein halb aufgegessener Erdnussbutterschokoriegel.
»Du bist also schwer beschäftigt, ja?«, meint er und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hebt einen Arm und lehnt sich direkt neben mich gegen die Hauswand. Meine Wangen beginnen erneut zu kribbeln, aber ich versuche, ganz cool zu bleiben. Was mir beim Anblick seines angespannten Bizeps jedoch ziemlich schwerfällt.
»Gibt es sonst noch was?«, frage ich, ohne auf seinen belächelnden Unterton einzugehen.
Er sieht mich noch eine Weile an, doch dann scheint er endlich zu kapieren, dass es hoffnungslos ist.
»Schön«, erklärt er und hebt dabei beide Hände über den Kopf. »Ich weiß, wann ich geschlagen bin. Also kein Date mit Emily. Einen Versuch war es wert.«
»Date?«, krächze ich.
Er lacht laut auf. »Wäre es denn schlimm, wenn es eins ist? Hast du einen Freund? Und wenn ja, wo versteckst du ihn?«
»Nein, ich … also das geht dich gar nichts an!«, schimpfe ich und komme mir dabei total dämlich vor.
Er beginnt, sich langsam zurückzuziehen, und tänzelt dabei fast schon über den Rasen. Nun sehe ich auch sein Board im Gras neben dem Haus liegen. Eigentlich ein schickes Teil, ziemlich groß, mit knallgrünen Rollen. Ich werfe einen Blick auf mein eigenes, das traurig an der Wand lehnt. Seit ich angekommen bin, war ich noch nicht einmal damit unterwegs, dabei habe ich total Lust darauf. In der Umgebung gibt es endlos lange Teerwege, umgeben von Weideflächen. Auf diesen Wegen fahren kaum Autos und ich habe mich schon die ganzen letzten Wochen darauf gefreut, endlich mal wieder richtig Pushen zu können.
Als ich wieder aufblicke, hat Jonah seinem Board bereits einen Tritt verpasst und die Spitze saust seiner ausgestreckten Hand entgegen. Lässig schlendert er über die Wiese und sieht sich nicht noch einmal nach mir um.
Ich seufze leise auf. Was soll’s …
»Jonah?«, rufe ich. Er dreht sich langsam um. »Warte. Ich ziehe mir nur schnell andere Schuhe an.«
Zwanzig Minuten später befinden wir uns an der Weggabelung, von der aus es in Richtung Dorf geht. Wir blicken uns kurz an, dann fragt Jonah: »Menschen oder Einöde?«
Ich überlege eine Sekunde lang und entscheide mich dann für die dritte Option.
»Bahnschienen«, entgegne ich geheimnisvoll lächelnd, doch wenn ich gedacht hatte, ihn mit meinen geografischen Kenntnissen um die Gegend beeindrucken zu können, habe ich mich wohl geschnitten.
»Woher kennst du meinen Lieblingsplatz?«, fragt er grinsend und stößt sich schwungvoll mit einem Bein vom Boden ab, um die vor uns liegende Kurve zu nehmen.
Ich steige ebenfalls wieder auf mein Board und folge ihm. Er muss genauso neue Kugellager haben wie ich, denn beide Boards geben kaum Geräusche von sich, als wir über den dunkelgrauen Asphalt düsen.
»Jetzt mal ehrlich«, sage ich. »Du tust doch nur so, als würdest du dich hier auskennen. Vor dem letzten Sommer habe ich dich noch nie zuvor gesehen. Familienfotos hin oder her, du kannst doch höchstens zwei- oder dreimal hier gewesen sein.«
Er weicht einem ziemlich großen Kiesel aus und hält problemlos sein Gleichgewicht, als das Board dabei leicht ins Schlingern gerät.
»Wieso interessiert dich das eigentlich so?«, fragt er, ohne mich anzusehen. »Ich meine, wieso ist es wichtig, ob ich oft oder nur gelegentlich hier bin? Ob ich weiß, wo ich langfahren muss oder nicht?«
Ich würde ihm gerne die Wahrheit sagen. Dass ich es nicht mag, wenn jemand meinen liebsten Ort auf der Welt, meinen Garten, meine Zuflucht kennt. Dass dies hier meine Teerwege, meine Weiden und meine Bahngleise sind. Dass ich mit dieser Gegend spaßige Heimwerkerexperimente mit Grandpa verbinde und mich gerne an ausartende Grillorgien erinnere. Feste und Zusammenkünfte mit der Familie, bevor sich die Gemeinschaft ausgedünnt hat. Bevor Tanten, Großonkel und Großväter krank wurden und von der Bildfläche verschwanden. Aber ich fürchte, er hält mich dann für verrückt. Niemand kann eine Ortschaft, ein Territorium für sich beanspruchen. Schon gar nicht ich. Ich zahle ja nicht einmal Miete! Außerdem fällt es mir in seiner Gegenwart irgendwie schwer, die richtigen Worte zu finden. Seine ganze Erscheinung und wie er mich ständig mit seinen grasgrünen Augen ansieht, bringen mich völlig aus dem Konzept.
Ich spiele also wieder die Zicke. Das fällt mir in Jonahs Gegenwart irgendwie ziemlich leicht und ich kann diesen neuen Wesenszug gar nicht an mir leiden.
»Ich finde es eben seltsam. Du tauchst eines Tages einfach auf, feierst einen Sommer lang mit deinen Kumpels ab und nun tust du so, als wären wir alte Freunde. Stehst einfach vor meiner Tür und planst Ausflüge.«
Er braucht einen Moment, bis ihm eine Erwiderung darauf einfällt. Wir passieren bereits die kleine Brücke. Bald werden wir nicht weiterfahren können und unsere Boards tragen müssen. Die Schotterwege auf diesem Areal sind Mist.
»Ich könnte dasselbe über dich sagen«, erklärt er schließlich. »Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass du dich an mich erinnerst. Ich für meinen Teil hab dich vor deiner Wet-T-Shirt-Aktion noch nie gesehen.«
Ich komme ins Straucheln und muss mit meiner gesamte Fahrerfahrung aufwarten, um nicht kopfüber im Graben zu landen. Die Sache mit dem Gartenschlauch wird er anscheinend nicht so schnell ruhen lassen …
»Das ist wohl kaum meine Schuld«, antworte ich bissig, als ich endlich wieder sicher auf dem Board stehe. »Ich komme schon mein ganzes Leben lang her! Ich bin mir auch sicher, dass deine Großeltern mich schon kannten, als ich noch nicht einmal laufen konnte. Meine Gran hingegen hat vermutlich noch nie von dir gehört. Würde mich jedenfalls nicht wundern …«
Wie erwartet wird der Weg unbefahrbar und wir klemmen uns die Boards unter die Arme. Von hier aus kann man die Gleise bereits sehen. Ich komme gerne her, weil die Gegend mich irgendwie an die apokalyptischen Geschichten erinnert, die ich so gerne lese.
»Da liegst du falsch«, erklingt Jonahs Stimme hinter mir. Ich höre, wie er mit Anlauf über eine riesige, verrostete Kabeltrommel springt, die ich zuvor umrundet hatte.
»Womit?«, frage ich.
»Deine Grandma kennt mich. Oder zumindest weiß sie, wer ich bin.«
»Echt?«, frage ich aufrichtig überrascht.
»Klar«, meint er und schließt zu mir auf. »Sie hat sich übel bei meiner Großmutter beschwert, wegen der lauten Musik und dem ganzen Müll. Darum habe ich mich die letzten Tage auch nicht bei euch blicken lassen. Ich glaube, sie kann mich nicht sonderlich gut leiden.«
Also weiß er, dass Gran weggefahren ist? Oder ist es purer Zufall, dass er sich heute auf unser Grundstück getraut hat? Hat er uns etwa beobachtet? Ich verziehe das Gesicht. »Da könntest du recht haben«, stimme ich zu.
»Da sind wir«, sagt er und bleibt unentschlossen stehen.
Ich lasse mein Board ins Gras neben den Schienen fallen und setze mich darauf. Jonah macht es mir nach. Um uns herum zirpen Grillen und Vögel picken Zeug aus dem Boden. Es ist ein richtig schöner Sommertag. Genauso, wie ich sie mag.
»Vorschlag«, höre ich Jonah sagen und wende mich ihm zu. »Wenn es dich wirklich so stört, dass wir etwas zusammen unternehmen, ohne uns gut zu kennen, tun wir doch etwas dagegen.«
»Und was?«, frage ich argwöhnisch.
»Da gibt es so ein Spiel«, erklärt er und stützt die Ellenbogen auf die Knie auf. »Ich sage hintereinander ein paar willkürliche Begriffe. Dinge, die mir eben so einfallen. Und du musst dann ganz schnell deinen ersten Gedanken dazu laut aussprechen. Du darfst nicht zögern. Einfach raus damit.«
»Was soll das bringen?«, frage ich wenig überzeugt.
»Wirst du schon sehen«, gibt er zurück und fügt hinzu: »Machen wir einen kleinen Testlauf.«
Ich bleibe skeptisch, äußere jedoch keine weiteren Einwände.
»Sommer«, sagt er.
Ich schaue ihn irritiert an.
»Nicht zögern!«, schimpft Jonah und wedelt auffordernd mit einer Hand. Dabei lächelt er mich aufmunternd an.
»Gran«, sage ich augenverdrehend.
»Sehr schön«, meint er und startet einen zweiten Versuch: »Turnschuh.«
»Longboard«, sage ich wie aus der Pistole geschossen. Allmählich verstehe ich das System dieses Spiels. Intuitiv breitet man seine Gedanken vor dem anderen aus, ohne etwas zu verbergen oder groß darüber nachzudenken.
»He, Moment mal!«, interveniere ich, bevor er den nächsten Begriff auf’s Tableau werfen kann. »So erfährst zwar du etwas über mich, aber andersherum bin ich immer noch nicht schlauer!«
»Wir wechseln uns ab«, gesteht er zu und erklärt: »Es funktioniert nur, wenn man viele Wörter schnell hintereinander abfragt.« Er überlegt kurz. »Sagen wir fünf, ja? Fünf Fragen für jeden, dann wird gewechselt.«
»Okay …«, stimme ich zu und bin tatsächlich ein bisschen aufgeregt. Was, wenn ich etwas Peinliches sage. Etwas, das ich vor ihm sonst nie einfach so laut aussprechen würde?
»Dann los«, beschließt er seltsam amüsiert und denkt kurz über seine erste von fünf Fragen nach. Schließlich sagt er: »Unterricht.«
»Langweilig«, schieße ich zurück.
»Geriebene Karotten.«
Ich stutze kurz, erwidere dann aber sofort: »Erkältung.«
Er grinst.
»Football.«
»Samantha Timberly«, feuere ich zurück und erröte umgehend.
»Wer ist Samantha Timberly?«, fragt er verwundert.
Ich verdrehe die Augen und erwidere: »So eine blöde Cheerleader-Kuh aus meiner Klasse. Ehemalige Klasse«, verbessere ich mich schnell. »Ist ja nun vorbei, die ganze Schulsache.«
»College?«, fragt er sofort und ich bin ein wenig verwirrt.
»Ist das dein nächstes Wort oder eine normale Frage?«
»Wie du willst«, entgegnet er, also sage ich bloß: »Durham, North Carolina.«
Eine Sekunde lang scheint ihn das aus dem Konzept zu bringen. »Du gehst an die Duke?«
Ich nicke stolz. Noch immer kann ich es nicht fassen, dass ich angenommen wurde. Er runzelt noch einmal kurz die Stirn und fährt dann fort.
»Zaun.«
»Jonah.«
Autsch!
Das ging nach hinten los. Ich möchte mir am liebsten mein Board gegen die Stirn schlagen.
»Interessant«, stellt er erfreut fest und streckt die Beine aus. »Du bist dran.«
Ich versuche, mich etwas zu entspannen, und bin froh, dass ich nun eine Antwort-Pause bekomme. Allerdings ist es gar nicht so einfach, sich Fragen einfallen zu lassen. Ich muss eine ganze Weile überlegen, bis ich loslegen kann.
»Samstagabend«, läute ich seine erste Runde ein.
Wie aus der Pistole geschossen kommt: »Rummachen.«
Ich runzele die Stirn, doch er sieht mich nur erwartungsvoll an.
»Weihnachten.«
»Scheidung.«
Herrje …
»Internet.«
»Let’s Plays.«
Doppelt herrje!
»Bier.«
»Fass.«
Ich seufze leise auf und präsentiere meinen letzten Begriff. Allem Anschein nach habe ich einen waschechten Proleten vor mir. Die Art jugendliches Exemplar, über das die Medien behaupten, es würde nur vorm Computer hocken und keinen Gedanken an seine Zukunft verschwenden.
»College.«
Jonah hebt eine Augenbraue, ob der doppelt gestellten Frage, antwortet jedoch artig: »Nervig.«
»Wer bist du?«, frage ich kopfschüttelnd. »So ein Highschool-Rebell, der nur an die nächste heiße Tussi und kaltes Bier denkt?«
Er zuckt mit den Achseln. »Du wolltest, dass wir uns kennenlernen«, lautet seine knappe Antwort. Ich habe das Gefühl, dass meine Worte ihn getroffen haben, dennoch wirft er mir meinen ersten von fünf Begriffen hin, ohne weiter auf meine Behauptungen einzugehen. Und ganz offensichtlich fährt er nun härtere Geschütze auf.
»Angst.«
»Tod«, entfährt es mir.
»Traum.«
»Fliegen.«
»Verliebt.«
Ich bleibe stumm. Mir will einfach nichts einfallen.
»Echt jetzt?«, fragt er verwundert. »Zu ›Verliebt‹ fällt dir nichts ein? Gar nichts?«
»Ich, äh … nein. Nicht so richtig.«
»Erstaunlich«, murmelt er und geht zum letzten Wort in dieser Runde über.
»Hobby.«
»Lesen.«
Ein Zug nähert sich in hohem Tempo und verordnet uns eine Zwangspause. Allmählich bezweifele ich, dass dieses Spiel eine gute Idee war. Zumindest habe ich das Gefühl, den Kürzeren zu ziehen.
»Letzte Runde?«, fragt Jonah, als die hinteren Waggons des Zugs weit genug entfernt sind, um wieder in normaler Lautstärke miteinander reden zu können.
»In Ordnung«, sage ich.
Es ist jetzt beinahe gespenstisch leise um uns herum. Vermutlich verhielt es sich vor dem Zug genauso, aber jetzt erscheint mir die Stille geradezu ohrenbetäubend.
»Kino«, beginne ich und die Antwort fällt wie erwartet aus.
»Dwain Johnson.«
»Wunschtraum.«
»Mehr.«
»Mehr?«, hake ich nach. »Ernst gemeint? Mehr, wie ›mehr haben wollen‹?«
Ich hoffe insgeheim, dass er einfach bloß ans Meer ziehen will, doch sein unschuldig dreinblickendes Nicken eliminiert diese Interpretation umgehend. Jonah will also einfach … mehr. Fein. Ich fahre kopfschüttelnd fort.
»Welt.«
»Reise.«
»Hunger.«
»Hotdogs mit Chili-Käsesoße.«
Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Genauso mag ich sie auch am liebsten. Dann überlege ich mir meine letzte Frage und wähle sie mit Bedacht.
»Emily.«
»Hübsch.«